
Ich lebe in einer Stadt ohne Bäume. Wien ist versiegelt, völlig zubetoniert. Die Parks im Zentrum und der weitläufige Prater in der Leopoldstadt vermitteln ein trügerisches Bild. Alles falsch, alles gelogen und alle wissen das. Gerade heute, am bislang heißesten Tag des Jahres mit 38 Grad im Schatten. Nichts, was Abkühlung verspricht. Flirrende Luft überm Asphalt, kaum Vögel am Himmel. Selbst der Hund im Hinterhof, der mir das Leben schwer macht, hat aufgehört zu bellen. Er röchelt nur mehr. Wie ein alter Motor, dem das Benzin ausgeht. Es ist zu heiß für diese Jahreszeit.
Sechs Gläser Wasser, sieben Telefonate. Der Vormittag vergeht wie im Flug. Nach einem leichten Mittagessen und einer Maniküre reise ich für einen Moment in eine sonderbare Grotte. Was man eben so macht, wenn man es kann und einem keine Redaktion auf die Finger schaut. Hier unter der Erde ist es dunkel und angenehm, sollte man meinen. Doch an dieser Höhle ist alles falsch, alles erlogen und das wissen jetzt auch Sie, liebe Leserinnen und Leser. Denn diese Grotto ist eine detailgetreue Nachbildung, besteht aus 30 Tonnen Karton und wurde vom deutschen Künstler Thomas Demand erschaffen. Das wunderbar obskure Werk befindet sich in der Fondazione Prada in Mailand. Ich freue mich über so viel Hintergrundwissen und mache ein Photo.
Zurück an meinem Schreibtisch, den ich gar nicht besitze, betrachte ich das Bild, das ich soeben geschossen habe. Neben der Arbeit von Demand und meiner linken Hand zeigt es den Erzählband Es ist zu kühl für diese Jahreszeit der ungarischen Autorin Anita Harag. Das Buch ist im Jahr 2022 in der Übersetzung von Timea Tankó im Verlag Schöffling & Co. erschienen. Darüber freue ich mich (irgendwas muss in der Luft liegen), und das aus gleich dreierlei Gründen:

1
Ungarn gehört zu den wenigen Ländern, die aktuell mehr als einen Nobelpreiskandidaten aufweisen können. Sowohl Péter Nádas (*1942) als auch László Krasznahorkai (*1954) sind für den Preis im Gespräch. Beide sind fantastisch, mir persönlich ist der düstere, etwas sperrigere Krasznahorkai näher. Jüngere Literatur aus Ungarn – gerade von Frauen – wird jedoch nur selten ins Deutsche übersetzt; das hat auch mit den politischen Verhältnissen im Land und den damit verbundenen Förderstrukturen zu tun. Hier liegt nun endlich ein Buch einer jüngeren, 1988 geborenen Autorin vor.
2
Das Buch von Anita Harag wurde von Timea Tankó übersetzt, die zu den versiertesten Übersetzer:innen aus dem Ungarischen gehört. Für ihre Arbeit an Apropos Casanova. Das Brevier des Heiligen Orpheus von Miklós Szentkuthy erhielt sie im Jahr 2021 den Preis der Leipziger Buchmesse. Dennoch steht ihr Name nicht auf dem Cover (aber immerhin auf der U4, also dem Backcover). Interessant ist auch der Originaltitel des Bandes, der ein wenig über das Ungarische verrät. Denn durch die Bildung von Wortformen durch Agglutination benötigt man im Ungarischen für Es ist zu kühl für diese Jahreszeit nur drei Wörter: Évszakhoz képest hűvösebb.
3
Zuletzt der wichtigste Grund meiner Verzückung: Harags Erzählband ist ein außerordentlich gelungenes Debüt, das ein großes erzählerisches Talent erkennen lässt. Das Buch wurde in Ungarn sehr wohlwollend von Kritik und Publikum aufgenommen und mit mehreren wichtigen Preisen bedacht. Zudem bin ich der Meinung, dass die aus dem Leben gegriffenen Short Storys von Anita Harag auch diejenigen Leserinnen und Leser abholen werden, die sonst eher Romane bevorzugen und anderen Formen der Literatur eher selten eine Chance geben.
Wenn ich die dreizehn Geschichten des Bandes als „aus dem Leben gegriffen“ bezeichne“, so meine ich damit, dass die Texte allesamt vom Alltäglichen erzählen und dabei selbst vor nebensächlichen oder scheinbar belanglosen Ereignissen nicht zurückschrecken. Häufig geht es in den Erzählungen um flüchtige Episoden aus dem Arbeits- und Familienleben, ob nun in der Provinz oder in der ungarischen Hauptstadt: eine Ukrainerin findet sich in ihrem neuen Job nicht zurecht, Kartoffeln sind im Angebot, ein Geschwisterpaar wird zweimal pro Woche zum Judo-Unterricht gebracht, der Nachbar hat schon wieder zu tief ins Glas geschaut und redet anzüglich, eine Frau geht mit ihrem neuen Freund auf dem Gellért-Berg in Budapest spazieren.

Harag erzählt unaufgeregt von diesen Dingen, lässt das Leben geschehen und will niemanden beeindrucken, so wie auch ihre Figuren nicht um Aufmerksamkeit buhlen oder sich groß machen wollen. Doch gerade in dieser Zurückgenommenheit entwickeln die Erzählungen einen besonderen Reiz. Sie schaffen Interesse für kleine Gesten und beiläufige Bemerkungen, für unausgesprochene Wünsche und Ängste. Feinfühlig herausgearbeitet sind vor allem die oft fragilen Beziehungen der Personen zueinander, fast immer geht es dabei um familiäre Bande.
Eltern und Großeltern spielen im gesamten Band eine bedeutende Rolle. Das hat auch damit zu tun, dass hier stets aus der Perspektive junger Frauen oder altkluger Mädchen erzählt wird (die Familie ist noch allgegenwärtig). Letztere mögen die Situation, in der sie sich gerade befinden, zwar nicht immer durchschauen – etwa wenn die Mutter ein romantisches Interesse am Sportlehrer ihrer Kinder entwickelt –, erkennen aber dennoch genau, wenn irgendetwas anders oder falsch läuft, ob irgendjemand lügt; und geben dieses Wissen an die Lesenden weiter.
Dass nicht alle Geschichten gleichermaßen gelungen sind, versteht sich fast von selbst. In ein zwei Fällen gelingt es Harag schlichtweg nicht, das allzu Alltägliche in eine interessante Geschichte zu überführen. Augenfällig wird dies insbesondere im Text Der Hund pinkelt auf den Teppich, in dem es wenig überraschend um eine Hündin geht, die nicht stubenrein ist. Die vielen Informationen zu den Themen Hundehaltung und Tiernahrung sind einigermaßen ermüdend, so spannend wie das Wetter von gestern.
In den anderen Texten jedoch zeigt Anita Harag ein großes Gespür für Humor und zwischenmenschliche Beziehungen. So auch in meiner liebsten Erzählung des Bandes: Westlich von Székesfehérvár. Darin entrümpelt eine Frau gemeinsam mit ihrem Freund das alte, verfallene Haus ihres verstorbenen Vaters in der ungarischen Pampa. Hier gibt es nur Altwaren, Trödel, ein paar Sachen fürs Rote Kreuz und ein paar schrullige Gestalten in der Nachbarschaft, die sich mit billigen Tricks und unter schlechten Vorwänden am Toten bereichern wollen. Die Tochter des Verstorbenen lässt es geschehen. Sie will weg aus der trostlosen Gegend, zurück nach Hause.
Und auch ich kehre zurück an meinen Schreibtisch, den ich gar nicht besitze, und betrachte den Erzählband. Es ist noch immer furchtbar heiß, denn ich lebe in einer Stadt ohne Bäume. Der Hund der Nachbarin röchelt leise im Hinterhof, ich will ihm den Hals umdrehen. Warum ist er nicht in der Wohnung seines Frauchens?, frage ich mich. Auch sie wird einen Teppich haben.
