Urszula Honek: Die weißen Nächte

By 21.09. 2025 Bücher

„Wenn du so dastehst und weißt, dass gar nicht weit weg das Leben ist, kommt dir alles Mögliche in den Sinn, aber dann beruhigst du dich, denn du erinnerst dich, dass du ja nicht hergekommen bist, um zu leben, sondern um zu sterben.“

Urszula HonekDie weißen Nächte

Wenn du so dastehst und dir das Cover von Urszula Honeks Roman Die weißen Nächte (Suhrkamp Verlag, 2025) anschaust, weißt du gar nicht recht, was du da siehst oder was das alles zu bedeuten hat: Eine Grünfläche, ein See, im Hintergrund ein paar bewaldete Hügel, vielleicht ein Mittelgebirge. In dieser Landschaft schwebt eine junge Frau, so scheint es. Ihr Haar und ihre Kleidung schimmern golden, ein wenig sakral. Doch irgendetwas fehlt auf diesem Bild.

Wenn du so nachdenkst, kommt dir alles Mögliche in den Sinn, aber dann beruhigst du dich: Es muss ein Strick sein, es fehlt ein Strick. Den starren Blick nach unten gerichtet, hängt hier eine Leiche im Gebiet. Die junge Frau ist nicht hergekommen, um zu leben, sondern um zu sterben. So wie hier alles stirbt, alles verenden muss, denn in der diesigen Landschaft lauert der Tod. Du erinnerst dich. Der Tod. Jede Senke, jede Furche ist ein Grab. Jeder Ast ist zum Erhängen da. Auf dem Bild der Malerin Agata Kus fehlen Ast und Strick. Aber der Tod ist da, der Tod ist immer da.

Wenn das Leben gar nicht so weit weg ist, erinnerst du dich: Der Tod ist immer da in Honeks weißen Nächten. Er wandert und rauscht durch jede einzelne Erzählung des Bandes. Hier wird gestorben und getötet (andere, sich selbst, werweißdasschon). Die, die leben, die leben. Jeder Zug ist abgefahren, man darf nicht viel erwarten. Die Tage vergehen und die Arbeit ist trist, das Licht aber ist schön. Das Schönste ist das Licht, so ein Licht hat man nirgends gesehen auf der Welt. Das Licht am Fuße der Beskiden, irgendwo in der Nähe von Rożnowice im Südosten Polens.

„Der Fluss floss am Fuß des Städtchens, unterhalb der Verteidigungsmauern, gewaltig und tief, so manchen hat er schon in seinen Strudel gezogen. Die dunkle, bläulich braune Strömung hatte etwas Hypnotisierendes, man hätte denken können, ganz auf dem Grund wäre ein besseres Leben.“

Urszula HonekDie weißen Nächte

Wenn du so liest und liest und es dir recht überlegst, bist du noch immer unsicher, was es mit diesen wundersam düsteren Erzählungen auf sich hat. Der polnische Verlag spricht von einer Sammlung von Kurzgeschichten, die wie ein Roman durch zarte Fäden miteinander verwoben sind. Die englischsprachige Übersetzung von Kate Webster, 2024 für den International Booker Prize nominiert, redet schlicht von Storys. Die deutschsprachige Ausgabe wiederum, übersetzt von Renate Schmidgall, nennt Honeks Buch einen Roman in 13 Geschichten. Nun hast du die Wahl.

Wenn du dich entscheiden müsstest, so würdest du dich nicht entscheiden. Vielleicht genügt hier die Beobachtung selbst: Die aus der Lyrik kommende Urszula Honek hat für ihr Prosadebüt eine komplexe, herausfordernde Form erarbeitet. Jede Erzählung steht für sich selbst und verweist doch auf alle weiteren Texte des Bandes. Erzählanlässe, Perspektiven, auch sprachliche Mittel unterscheiden sich mitunter gravierend voreinander – und doch sind die Geschichten durch Orte, Figuren, Motive und Themen mit- und ineinander verwoben. Ein Schwein wird geschlachtet, ein seltsam leuchtender Tag bricht an, in einer Baracke wird die Leiche einer vermissten Frau entdeckt und irgendwo bellt ein Hund. Immer bellt ein Hund.

Wenn du früher gewusst hättest, dass einzelne Handlungsstränge und Personen (oder deren Angehörige in Gegenwart und Vergangenheit) immer wieder auftauchen, teils offensichtlich, dann wieder subtil, allein in Andeutungen, vielleicht hättest du dir mehr Notizen gemacht, Stammbäume gezeichnet, irgendwas in dieser Art. Vielleicht aber auch nicht. Die Texte stiften Verwirrung und das willst du ihnen nicht nehmen. Du willst dir das nicht nehmen. Man kann die filigranen, grausamen Erzählungen von Urszula Honek immer wieder lesen, das will man auch, und wird stets Neues entdecken, immer neue Dinge nicht verstehen.

Und wenn die Dämmerung einsetzt, wirst du in Richtung Friedhofshügel aufbrechen und in die Bar Finesse einkehren. Hier schunkelst du übel mit den anderen Säufern und möchtest noch weitere Sätze aus dem Buch zitieren. Zitternd zitierst du aus Honeks Erzählungen. Geschichte/n der Gewalt. Sie schweben über dem Abgrund, schimmern golden, ein wenig sakral. Der Tod ist da, der Tod ist immer da. Da hinten bellt ein Hund.

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