Sergej Lebedew: Das perfekte Gift

By 04.05. 2025 Bücher

Schau dir das doch mal an! Na komm schon, warum auch nicht? Du solltest ohnehin mal diese sogenannte komfortable Zone verlassen, von der immer alle reden und die bei dir – aus welchem Grund auch immer – aus düsteren Romanen über Krieg und Genozid, Armut und Scham besteht, aus sonderbarer Lyrik, die kein Mensch versteht (und du schon längst nicht). Hübsch hast du’s dir in deiner Nische eingerichtet, mag schon sein, dein kleiner Trümmerpalast funkelt selbst in der Dunkelheit, bildest du dir ein.

Die Lage ist doch aber so: Penetrant nervst du deine Leser:innen, dass sie doch bitte mal was anderes lesen sollten als immer nur (hier Namen einfügen) oder (hier einen weiteren Namen einfügen), säuselst den Hörer:innen deines Podcasts ins Ohr, sie mögen sich doch bitte nicht nur die immer gleichen Neuerscheinungen zur Kenntnis nehmen, sondern auch Abseitiges, Schräges und weniger Bekanntes. Gleichzeitig ignorierst du kleiner Snob das große Kino: Erfolgstitel und Genreliteratur jeder Couleur. Oioioi, denkst du dir, hältst kurz inne und willst nun doch deinen sogenannten Horizont erweitern. Na prima!

[Unter uns: Still und heimlich greifst du sehr wohl zum Popcorn, begutachtest die Leseproben der Spitzentitel, ziehst dir per Onleihe die Spiegel-Bestseller auf den eReader, suchst in offenen Bücherschränken nach bekannten Namen. Das machst du nicht ständig, aber du machst es. Mit deinem Osteuropa-Blog ist das freilich nicht kompatibel.]

Da dir weder Fantasy aus Nordmazedonien noch Dark Romance aus der Slowakei in den Sinn kommen und du es ohnehin nicht gleich übertreiben willst, greifst du zu einem Roman, den man als Agenten- oder Spionagethriller bezeichnen könnte. Sowas liest du ja sonst auch nicht, weil du auf diese sogenannte Höhenkammliteratur schwörst. Deine Wahl fällt auf Das perfekte Gift des in Moskau geborenen und heute in Berlin lebenden Autors Sergej Lebedew. Das Buch erschien im Jahr 2021 in der Übersetzung von Franziska Zwerg im S. Fischer Verlag. Bereits vor drei Jahren hast du in Italien ein Bild von diesem Buch gemacht (Vor drei Jahren? Völlig beknackt, wenn du mich fragst. Aber musst du ja wissen…).

[Unter uns: Womöglich passt der Roman nicht so ganz zur italienischen Riviera. Die Buchphotos entstanden dennoch im Giardino Esotico Pallanca in der Nähe des Badeortes Bordighera. Das Buch versteckt sich so schön zwischen all den Pflanzen. Einige mögen giftig sein.]

Nun hast du das Buch endlich gelesen, es lag lang auf, nein unter einem Stapel in deinem Wohnzimmer und wartete darauf, gelüftet zu werden. Wie ein Geheimnis. Woraus du selbst kein Geheimnis machen möchtest: Es hat dich Kraft gekostet, den Roman zu bewältigen. Gerade die erste Hälfte erforderte viel Disziplin. Ständig musstest du neu ansetzen, warst irritiert oder hattest einen der vielen Fäden verloren. Zudem kamen die dir Figuren immer wieder abhanden (alle männlich, teilweise ähnliche Nachnamen). Womöglich ist also genau das passiert, was der Roman grundsätzlich auch bezweckt. Verwirrung, Chaos. Um gerade auf diese Weise einen Einblick in die undurchschaubaren Mechanismen eines Geheimdienstapparates zu liefern.

Natürlich geht es im Buch um Russland und um die Sowjetunion (es gibt viele Rückblenden in die Zeit des Kalten Krieges, Traditionslinien werden herausgearbeitet), um den russischen Geheimdienst, der international agiert, in sämtlichen Ländern. Welche das konkret sind, darüber hält sich der Text bedeckt, oft bleibt er vage und unkonkret. Diese Strategie findest du nicht uninteressant, gleichzeitig stört dich dieses Vorgehen an vielen Stellen. Warum von einem Land sprechen, das heute aus zwei Staaten besteht und dessen Teilung im Jahr 1993 vollzogen wurde? Warum nicht gleich von der Tschechoslowakei reden? Der Text spielt mit seinen Leser:innen, will sich nicht in die Karten blicken lassen. Doch das empfindest du an vielen Stellen als ermüdend.

Zwischenzeitlich hast du sogar in Erwägung gezogen, den Text abzubrechen, einfach aufzuhören und dann auf deinem Blog über dein „Scheitern“ zu schreiben. Auch das kann ja ein möglicher Zugang sein. Doch woran hat es gelegen? Du gibst doch sonst nicht so schnell auf! Dein Zaudern erklärst du dir mit der Form des Romans: Das Buch besteht aus vielen kurzen Kapiteln, die aus der Perspektive ganz unterschiedlicher Figuren berichten. Erzählt wird von versteckten Kriegslaboren, chemischen Waffen, politischen Morden, Macht und Ohnmacht, Gewissen und Moral, Dissidenten und deren Verfolgung. Unmöglich, kurz und prägnant den Inhalt des Romans zu schildern (und das fällt dir ja auch sonst schon schwer).

Normalerweise gefällt dir so ein Erzählen in Fragmenten und Bruchstücken, hier lässt es dich etwas unbefriedigt zurück. Das hat einerseits damit zu tun, dass die Kapitel häufig genau dann abbrechen, wenn sich eine Situation verdichtet und es wirklich spannend wird (und Spannung ist bei einem guten Agententhriller unabdingbar). Andererseits hat es mit der Sprache des Romans zu tun. Denn in diesem Punkt will das Buch einfach zu wenig, ist zu konventionell, um dich wirklich zu begeistern. Die „poetische Ebene“, die in einigen Rezensionen betont wird, kannst du im Text schlichtweg nicht erkennen.

„Der Wissenschaftler hatte die Substanz geschaffen, Scherschnjow sie eingesetzt; sie waren es, die die Arbeit machten, ein Risiko eingingen. Und Scherschnjow schien es falsch, dass sie nun gegeneinander ausgespielt wurden.“

Sergej LebedewDas perfekte Gift

Und doch bist du froh, nicht vorzeitig aufgegeben zu haben. Denn die zweite Hälfte des Romans ist deutlich besser komponiert als die erste, viel rasanter und mitreißender. Mehr oder weniger geht es darin um die Frage, ob es dem russischen Agenten Scherschnjow und seinem Kollegen Grebenjuk gelingen wird, irgendwo in Mitteleuropa den Dissidenten und „Vaterlandsverräter“ Kalitin aufzuspüren, der einst für die Sowjets den „Debütanten“ entwickelt hat – das titelgebende perfekte Gift (schneller Tod, keine Rückstände). Pikanterweise sind sowohl die Jäger als auch der Gejagte im Besitz dieser Waffe und wissen sie einzusetzen. Und so zeigt Sergej Lebedew im zweiten Teil seines Romans dann doch, wozu er als Autor in der Lage ist: Ganz großes Kino, unterhaltend und komplex zugleich.

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