
”„Zu Hause ging ich zum Spiegel und blieb lange davor stehen. Ich sah mir an, was aus mir geworden war. Wenn doch Serjoga sich damals nicht geirrt hätte und mich nicht im Panzer hätte brennen lassen bis zum Schluss. Aber er dachte, ich sei schon perdu. Deshalb hat er zuerst die anderen rausgeholt. Die, die sich noch rührten.“
Andrej GelassimowDurst
Wie mich der schmale, knapp 100 Seiten umfassende Roman Durst des russischen Autors Andrej Gelassimow erreicht hat, das habe ich vergessen. Irgendwann stand das Buch in meinem Regal, stand dort einige Jahre lang. Ich muss es irgendwo günstig und spontan mitgenommen haben. Schaut man genau hin, erkennt man am unteren Buchschnitt den Vermerk: Mängelexemplar.
Dieses Mängelexemplar bezeichnet der Suhrkamp Verlag als einen Schlüsseltext der russischen Literatur des frühen 21. Jahrhunderts. Ich weiß nicht, worauf man sich hier beruft und ob das so stimmt. Vielleicht ist es mir auch egal. Das gilt auch für die Vergleiche mit Raymond Carver oder J. D. Salinger, die ich online finde. Was man so über einen weniger bekannten Autor schreibt, um ihn schmackhaft zu machen. Ich verstehe das ja, ich verstehe es gut.
Ich beginne also mit der Lektüre, ohne mich groß über den Inhalt des Romans zu informieren. Naiv vertraue ich dem Verlag. In der edition suhrkamp erschienen und erscheinen immer wieder interessante Texte jüngerer osteuropäischer Autor:innen, vor allem aus Polen, der Ukraine oder Russland, so mein Eindruck. Als Durst im Jahr 2002 im russischen Original veröffentlicht wurde, war Gelassimow 37 Jahre alt. Die deutschsprachige Ausgabe – übersetzt von Dorothea Trottenberg – erschien 2011, also fast zehn Jahre später.
Schon der erste Satz übertrifft meine Erwartungen, erfüllt hübsch die Klischees: „Es passte einfach nicht der ganze Wodka in den Kühlschrank.“ Ein Roman mit dem Titel Durst … natürlich wird hier gebechert. Es wird sogar recht viel getrunken in diesem Text, gesoffen, gekotzt und sich geprügelt, dann noch mehr gesoffen. Gleichzeitig deutet bereits dieser erste Satz an, dass hier etwas nicht stimmt, etwas nicht passt. Irgendetwas ist passiert.
Der Krieg ist passiert. Protagonist und Ich-Erzähler Kostja hat im Ersten Tschetschenienkrieg gedient und wurde während eines Angriffs schwer verwundet. Seitdem ist sein Gesicht nicht mehr zu erkennen, ist nur mehr „ein verbranntes Stück Fleisch“. Und so lebt Kostja zurückgezogen in Podolsk, einem Vorort von Moskau, renoviert die Häuser und Wohnungen wohlhabender Kunden und trinkt zu viel. Ab und an kommt seine Nachbarin Olga vorbei, wenn ihr Sohn nicht ins Bett will. Dann verdingt sich Kostja als Kinderschreck und lehrt den Kleinen das Fürchten. Wenigstens dazu ist er noch zu gebrauchen.
”„In der Kindheit prügelt man sich oft mit den Freunden. Du gerätst im Treppenhaus mit irgendwem aneinander und schlägst ihm den Kopf gegen die Stufen. Und oben klappern die Nachbarn mit dem Schlüssel.
Andrej GelassimowDurst
Nicht weil du ihn hasst, sondern weil er immer da ist. Es ergibt sich einfach so.“
Die Tage vergehen im Vollrausch. Beim Trinken denkt Kostja an seine Schulzeit und an Prügeleien in dreckigen Hinterhöfen, aber auch an seinen ehemaligen Schuldirektor, der sein Zeichentalent erkannte und der zu einer Art Ersatzvater für ihn wurde. Tagelang zeichnete er für ihn, während sich der Direktor nachschenkte, weil ihn ein ständiger Durst quälte. Der Durst nach Wodka, aber auch nach einem anderen Leben. Dann verschwand der Direktor und Kostja hörte mit dem Zeichnen auf, ging bald zur Armee, um vor seiner eigentlichen Familie zu fliehen.
Die Tage vergehen also im Vollrausch, dann hämmert es an der Tür. Seine ehemaligen Kameraden Genka und Paschka sind auf der Suche nach Sergoja, von dem jede Spur fehlt. Es ist nicht das erste Mal, dass das passiert. Sergoja hat damals im Krieg alle anderen aus einem brennenden Panzer gerettet, nun kommen sie für ihn auf. In einem Jeep fahren die drei Männer durch die Moskauer Satellitenstädte, klappern Bahnhöfe ab und führen Gespräche. Die sinnlos erscheinenden Suche wird zum Vehikel für eine Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
”– Warum bist du so nachdenklich? fragte Genka.
Andrej GelassimowDurst
– Nur so. Ich überlege einfach – was mit uns wird.
– Was muss man da überlegen? Wir sind gleich da, dann gibt es Wodka.
Andrej Gelassimow wurde im südsibirischen Irkutsk geboren, studierte Fremdsprachen in Jakutsk und besuchte im Anschluss die Schule für Dramatische Kunst in Moskau. Dass er nach seinem Studium als Schauspieler, Inspizient und Drehbuchautor arbeitete, ist nicht uninteressant, denn sein nach wie vor lesenswerter Roman hat zweifelsfrei filmische Qualitäten. Obwohl nüchtern erzählt, stellt Gelassimow eine erstaunliche Nähe zu seinen Figuren her, in erster Linie durch die hervorragend geschriebenen Dialoge.
Wie jeder gelungene Kriegsroman ist Durst ein Anti-Kriegsroman. Das Buch erzählt von einer versehrten, traumatisierten Gesellschaft. Bereits bei Erscheinen war der Roman, der sich mit den Folgen des Ersten Tschetschenienkriegs (1994 – 1996) auseinandersetzt, ein Kommentar auf die damalige politische Situation und den Zweiten Tschetschenienkrieg (1999 – 2009). Und so unlieb mir die Floskel „Das Buch hat an seiner Aktualität nichts verloren“ ist, erzählt das Buch auch vom heutigen Russland. Gegenwärtig könnte ein Roman wie Durst hier jedoch nicht mehr erscheinen.
