
Die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl hat in meiner ostdeutschen Kindheit nicht stattgefunden. Sie spielte keine Rolle, war nie ein Thema. Ich kann hier ausschließlich für mich sprechen. Meine Erfahrungen sind nicht repräsentativ. Erst Anfang der 1990er Jahre – während eines Familienurlaubs in den polnischen Masuren – habe ich zum ersten Mal davon gehört. Von einer westdeutschen Mitreisenden, die sich besorgt zeigte, ob man die im Osten Polens gesammelten Pilze bedenkenlos essen könne (sie tat es nicht). Über die konkreten Gründe ihres Unbehagens informierte ich mich erst Jahre später, mit Hilfe von TV-Reportagen, Zeitungsartikeln und Büchern.
Eine prägende Drohkulisse konnte mir Tschernobyl aus diesem Grund nie werden – zu verzögert war meine Auseinandersetzung mit den Ereignissen vom April 1986. Und so hatten Nervenkitzel und Sensationsgier keinen Einfluss auf meine Entscheidung, das Sperrgebiet im Sommer 2018 zu bereisen. (Oder doch?) So redete ich mir das jedenfalls zurecht. In der Hoffnung, mich in diesem Punkt nicht selbst zu belügen. Denn wer möchte schon Katastrophentourist genannt werden? Wer möchte schon zu denjenigen gehören, die sich am Unglück anderer ergötzen? Diese Reise stellt für jede Person, die sie begeht, ein moralisches Dilemma dar. Sie verlangt nach Erklärungen. Doch was war meine?
Kiew. Die Kleinbusse, die etwa 15 Personen befördern, verlassen die Stadt schon am frühen Morgen. Die Fahrt zur Sperrzone von Tschernobyl dauert etwa zwei Stunden und ist nur im Rahmen einer geführten Tour gestattet. Diese Tour kostet umgerechnet etwa 100 Euro und muss im Voraus gebucht werden. Im Preis inkludiert ist auch ein Mittagessen, das in der Kraftwerkskantine eingenommen wird. Unser Tourguide heißt Natalia. Sie fährt etwa dreimal pro Woche ins Sperrgebiet. Entsprechend versiert tritt sie auf. Ihre Kenntnisse sind umfassend und detailgenau. So wie die Sicherheitshinweise, über die sie uns während der Fahrt informiert: lange Bekleidung (trotz der Hitze), die asphaltierten Wege nicht verlassen, nicht im Freien essen oder trinken, nicht auf den Boden setzen, keine Dinge entwenden! Und vor allem: Ruhe bewahren, zu jeder Zeit, auch wenn der Geigerzähler ausschlägt. Ein gewöhnlicher Transatlantikflug verursache eine größere Strahlenbelastung als ein ganzer Tag in der Sperrzone.
Auf dem Weg in die Sperrzone werden unsere Reisepässe gleich mehrfach kontrolliert. Am ersten der zwei Grenzposten gibt es einen kleinen Kiosk, der auch als Souvenir-Stand fungiert. Hier gibt es T-Shirts, Tassen und Anhänger mit dem Strahlenwarnzeichen, das im Dunkeln leuchtet. Selbst Gasmasken werden verkauft. Meine Reisegruppe zeigt sich zurückhaltend; vereinzelt wird Wasser oder Kaffee bestellt. Während des Wartens tauchen weitere Minibusse auf, von denen einige mit dem dreiblättrigen Flügelrad dekoriert sind. Die dazugehörigen Tourguides tragen Uniformen in Tarnfarbe. Für die Aufarbeitung des Themas vor Ort sind die jeweiligen Unternehmen zuständig. Offensichtlich wird ihnen von den Behörden ein gewisser Spielraum zugestanden, so lange sie sich an die Sicherheitsvorkehrungen halten.
Unsere erste Station ist die Ortschaft Zalissya, in der vor der Reaktorkatastrophe etwa 3000 Menschen lebten. Sie befindet sich knapp 25 Kilometer südlich vom Kernkraftwerk und war im Mai 1986 der erste Ort innerhalb der Sperrzone, der vollständig geräumt wurde. Bevor wir das Gelände betreten, demonstriert uns Natalia mit einem Geigerzähler, dass die Strahlenbelastung abseits der befestigten Wege deutlich zunimmt. Gefährlich werde die Strahlung aber nur dann, wenn man sich ihr für einen sehr langen Zeitraum aussetzt. Dabei gehe es nicht um Stunden, sondern um Monate. Diese Information finden nicht alle Mitreisenden beruhigend.
Die verlassene Kleinstadt Zalissya ist heute völlig zugewachsen und zerstört. Wir besichtigen einstige Wohnhäuser, eine Schule, ein Krankenhaus und einen Kulturpalast. Allesamt Ruinen. Kleidung, Spielwaren und Dinge des alltäglichen Gebrauchs liegen verstreut darin herum. Vieles wirkt nachträglich arrangiert. Perfekte Photomotive. Der Grad der Verwüstung lässt sich unmöglich durch die Witterung erklären. Tatsächlich hat er mehrere Ursachen: Zum einen wurde den Gebäuden bereits während der Evakuierung und Dekontamination erheblicher Schaden zugefügt. Zum anderen fanden hier immer wieder Plünderungen statt. Vor allem aber wurde ein Großteil der Gebäude ganz bewusst zerstört, um ein erneutes Bewohnen dauerhaft zu verhindern.
Die nächste Station führt uns zur Radaranlage Duga-1, einst Teil des sowjetischen Raketenabwehrsystems. Die Anlage ist gigantisch und sehr beeindruckend. Der lange Zeit geheim gehaltene Standort musste 1986 aufgrund der Reaktorexplosion unwiderruflich aufgegeben werden. Völlig funktionstüchtig war das riesige Antennenarray jedoch nie. Natalia informiert so umfassend über die Geschichte der Anlage, dass ich vieles sofort vergesse. Ich schweife oft ab und lausche in den Himmel. Das von Duga-1 erzeugte Kurzwellensignal nannte die NATO „Woodpecker“ – es hörte sich an wie das Klopfen eines Spechts.
Das Mittagessen nehmen wir in der ArbeiterInnen-Kantine direkt neben dem Kernkraftwerk ein. Aufgrund der Schutzhülle über dem Reaktor 4 ist die Strahlenbelastung hier deutlich geringer als an anderen Orten des Sperrgebiets. Vor dem Betreten der Kantine findet erstmals eine Strahlenkontrolle statt. Die hierfür zur Anwendung kommenden Gerätschaften wirken wie Ausstellungsstücke. Sie sind völlig antiquiert. Das Essen (Frikadellen, Kartoffelbrei und Krautsuppe) schmeckt gut. Beim Kraftwerk machen wir im Anschluss nur einen kurzen Stopp. Ausreichend Zeit für ausreichend Photos.
Auf dem Weg nach Prypjat schlagen plötzlich die Geigerzähler aus. Ein lautes Fiepen geht durch den Kleinbus. Wir passieren den „Roten Wald“, der seinen Namen durch die rot-braune Färbung der Kiefern erhalten hat. Grund dafür war die Absorption hoher Strahlung. Das Waldstück gehört noch heute zu den kontaminiertesten Gebieten der Welt.
Die einstige sowjetische Vorzeigestadt Prypjat wurde im Jahr 1970 gegründet und liegt nur vier Kilometer vom Kraftwerk entfernt. Vor der Katastrophe lebten hier fast 50.000 Menschen. Die verlassene Ortschaft wirkt vor allem deshalb so beängstigend, weil es hier so irritierend ruhig ist. Kein Vogel am Himmel, kaum Insekten. Die meisten Gebäude dürfen wegen Einsturzgefahr nicht mehr betreten werden. Eingerissene Wände geben zuweilen ihr Innenleben preis. Natalia zeigt uns ehemalige Kaufhäuser, Hotels, Kinos, Sportanlagen und den bekannten Rummelplatz. Zu jedem Ort weiß sie eine Geschichte. Auch von den Schicksalen der ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohner berichtet sie. Zwei deutsche Mitreisende werden ungehalten und machen ihr wiederholt zum Vorwurf, dass die Stadt so spät evakuiert und die Gefahr zu lange unterschätzt wurde.
Beim Verlassen des Sperrgebiets erfolgt eine weitere Strahlenkontrolle. Wie erwartet gibt es keine Komplikationen. Im Anschluss erhalten wir Urkunden, so als hätten wir eine Leistung erbracht. Das Zertifikat gibt an, welcher Strahlendosis wir während der Tagestour ausgesetzt wurden: 0,003 mSv (Millisievert). Laut Bundesamt für Strahlenschutz beträgt die durchschnittliche jährliche Dosis eines in Deutschland lebenden Menschen 2,1 mSv.
Alina Bronsky verlegt ihren Roman „Baba Dunjas letzte Liebe“ in dieses Gebiet. Man erfährt eine Menge über die Gegend und die besonderen Umstände. Auch darüber, warum es Menschen gibt, die dort noch weiter leben wollen.
Ich finde das Interesse legitim. Es is ja auch ein Forschungsgegenstand, welche Auswirkungen der Unfall auf die Umwelt hatte und wie sich das dadurch entstandene Biotop entwickelt hat.
Außerdem ist es auch eine Form der Erinnerung an die Menschen, die dort gelebt haben und nicht nur eine Katastrophe erlebt haben, sondern auch – wie nach einem Krieg – ihre Heimat verloren haben.