Notizen über Notizen oder: Neunzehn flüchtige Verfehlungen
1.
Aber der Stuhl ist umgefallen und der Wind geht. Die Bleistifte sind zerbrochen, die Leitungen gekappt und das WLAN hat den Geist aufgegeben. An das Gesicht des Briefträgers kann sich hier im Ort niemand mehr erinnern, während der Stuhl noch immer verlassen auf dem Gras liegt und wie ein toter Esel die Beine ausstreckt.
2.
Und doch: ein Buch.
3.
Der Band Notizbuch der Liebe des kosovarischen Schriftstellers und Schauspielers Shpëtim Selmani ist Ende 2021 in der Übersetzung von Zuzana Finger in der Parasitenpresse erschienen.
4.
Die Parasitenpresse ist ein unabhängiger Verlag mit Sitz in Köln, der sich vornehmlich auf Lyrik und Kurz-Prosa konzentiert. Die Parasitenpresse hat einen schönen Namen, zu dem jeder und jedem etwas einfällt: Ungeziefer im Garten oder in der Speisekammer, Geschlechtskrankheiten, subversive Praktiken, deviante Subjekte oder dieses eine Buch von Michel Serres, das kein Mensch je gelesen hat. Hier ist man richtig.
5.
In 33 Prosaminiaturen erzählt der 1986 in Prishtina geborene und lebende Autor und Schauspieler Shpëtim Selmani aus dem Leben des 1986 in Prishtina geborenen und lebenden Autors und Schauspielers Shpëtim Selmani. Der Verdacht liegt nahe, dass es sich beim Notizbuch der Liebe um einen autobiographischen Text handelt.
6.
Das Notizbuch der Liebe ist ein autobiographischer Text. (Verdacht)
7.
Im Verlauf der Lektüre fügen sich die einzelnen Versatzstücke zu einem Ganzen zusammen. Das braucht einen Moment, aber es passiert, und so lässt sich das Buch als ein autofiktionaler Roman in Fragmenten bezeichnen. So man denn möchte. (Ich möchte das nicht.)
8.
Der Titel des Buchs selbstverständlich eine absolute Zumutung. Rosamunde Pilcher würde sich vor Scham (wahlweise auch: Neid) im Grabe umdrehen und laut mit den Zähnen knirschen. Zuckerguss und Bauchschmerzen. Google Translate weiß, dass auch das albanischsprachige Original diesen schauderhaften Titel trägt und den Verlag und die Übersetzerin keine Schuld trifft. Google Translate weiß auch, dass der englische Begriff „cringe“ im Deutschen „Schaudern“ bedeudet.
9.
The Book of Love ist ein sehr guter Song der sehr guten US-amerikanischen Band The Magnetic Fields, der sehr schlecht von Peter Gabriel gecovert wurde. Gerade die Version von Gabriel wird jedoch sehr gern auf Hochzeiten gespielt. Auf sehr vielen Hochzeiten. Man möchte sich, selbst wenn alleinstehend, sofort scheiden lassen.
10.
Im Song der Magnetic Fields heißt es gleich am Anfang: „The book of love is long and boring. No one can lift the damn thing.“ Das Notizbuch der Liebe hat nur 72 Seiten und wiegt (keine Ahnung) Gramm. Es ist sehr leicht und nicht langweilig.
11.
So einen die Langeweile dennoch überkommt: Das Buch ist sehr handlich. Man kann es in einer Hand halten und mit der anderen ganz unproblematisch nach einer Zigarette oder einem alkoholischen Kaltgetränk greifen oder aber eine Wäscheklammer auf dem Zeigefinger balancieren. Das geht natürlich nicht alles gleichzeitig. Aber das Buch ist ja ohnehin nicht langweilig.
12.
Für das Notizbuch der Liebe hat Shpëtim Selmani im Jahr 2020 den Literaturpreis der Europäischen Union erhalten. Tatsächlich ist sein Buch sehr europäisch, schon was die Handlungsorte betrifft: Es spielt in Prishtina, Tirana, Belgrad, Florenz, Berlin und Leipzig.
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Leipzig?
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In einer der Miniaturen erzählt Selmani von einer Einladung auf die Leipziger Buchmesse. Als Autor aus einem der Nachfolgestaaten Jugoslawiens muss er sich auf einer Podiumsdiskussion zu Josip Broz Tito äußern, zu dem ihm einigermaßen wenig einfällt. Aber wenn man als ex-jugoslawischer Schriftsteller gebucht ist, dann ist man als ex-jugoslawischer Schriftsteller gebucht. Im Rahmen eines Pressegesprächs im Vorfeld der „Leipziger Buchmesse“ 2022 berichte ich Podium und Publikum von dieser Passage. Mir gegenüber sitzt der Messedirektor Oliver Zille, dem während meines Monologs das Gesicht entgleist. In diesem Moment wünsche ich mir nichts sehnlicher, als dass die im Buch geschilderte Szene authentisch ist, Zille damals zugegen war und noch immer einen Groll auf diesen undankbaren und dreisten kosovarischen Autor hat.
15.
Er habe sich eigentlich nur auf meine Wortmeldung konzentriert, erzählt mir Zille im Nachgang. Selmani sei ihm gänzlich unbekannt. Ich knirsche laut mit den Zähnen.
16.
Shpëtim Selmani findet in seinem Buch einen Ton, der der diskontinuierlichen Anlage seines Textes entspricht. Er erschafft elegant feinsinnige Sprachbilder, die immer wieder von derben Formulierungen ins Knie gefickt werden.
17.
Es ist amüsant und berührend, wie Selmani von seiner Liebe zu Frau und Kind, von seinem Vater oder von seinem Alltag als flatulierender Schriftsteller und Schauspieler erzählt. Noch eindrucksvoller sind jedoch diejenigen Passagen, in denen er aufs Ganze geht und sich der unverschämten Schönheit und strahlenden Grausamkeit der Welt zuwendet. Seine Sinnsuche und Selbstbefragung oszilliert zwischen Hoffnung und Zynismus. Widersprüche werden nicht geglättet.
18.
„Ich bin wie ein Schatten, der vorbehaltlos daran glaubt, dass dies jetzt unsere ruhmreichste Epoche ist. Wer braucht denn schon die Wahrheit.“
19.
Kein Kitsch, kein Fragezeichen. Die Lücke, die der Teufel lässt.