Volha Hapeyeva: Camel Travel

Von 25.09. 2022 Bücher

Glauben Sie, dass die Kindheit je ein Ende hat, dass sie Sie irgendwann, einfach so, von einem Tag auf den anderen und ganz ohne Ihr Zutun, Betteln und Flehen, aus ihrem harten Griff entlässt, auf dass Sie weiterziehen mögen, hinein in eine freie Welt, in eine wahrhaft freie Welt, die diesen Namen auch verdient, in der Sie atmen und riechen und schmecken können, in eine Welt, die es Ihnen ermöglicht, nach Ihrem eigenen Empfinden, in der Ihnen angemessen Form und Sprache zu fühlen, zu denken und, so es Ihnen ein Anliegen ist, auch zu schreiben, ganz ohne Druck und Unterdrückung, ganz ohne den strengen Blick und die strafende Hand der Autoritäten, denen an Ihrer Unfreiheit gelegen ist? Und glauben Sie, dass es hier noch um die Kindheit geht?

Haben Sie jemals in Erwägung gezogen, dass das Vergangene gar nicht tot ist, ja nicht einmal vergangen, dass wir uns davon abtrennen, uns fremd stellen und stets Gefahr laufen, uns zu verschanzen? Wie aber umgehen mit dieser nicht abtrennbaren Vergangenheit, der eigenen wie fremden, einer nie enden wollenden Kindheit (um beim Thema zu bleiben, ausnahmsweise)? Und abgesehen davon: Halten Sie mein leicht abgewandeltes Zitat des bekannten Romananfangs von Christa Wolfs Kindheitsmuster für plump und abgedroschen, weil Sie sofort durchschaut haben, dass hier ein Übergang geschaffen werden soll, hin zu einem anderen autobiographischen Werk, das danach fragt, auf welche Weise uns das Vergangene prägt, nicht loslässt und fortwährend in die Knie zwingt, ein Werk, das die Erinnerung selbst in den Mittelpunkt stellt, die Erinnerung, die da spricht und zum Sprechen gebracht wird, die Sprache und Struktur erst finden muss?

Finden Sie es irritierend, dass die im Jahr 1982 in Minsk geborene und heute im Exil in Deutschland lebende Autorin Volha Hapeyeva ihrem autobiographischen Roman über ihre sowjetische Kindheit den englischen Titel Camel Travel (Literaturverlag Droschl, 2021 – aus dem Belarussischen von Thomas Weiler) verliehen hat, weil Sie die englische Sprache, Belarus, Kamele, Reisen oder gar die Reisefreiheit nicht so ganz zusammenbringen können? Halten Sie es für anmaßend oder gar unverschämt, dass der Verfasser dieses Beitrags das Buch der mehrfach ausgezeichneten Schriftstellerin, Lyrikerin, Übersetzerin und Linguistin aus Illustrationszwecken im Logo einer deutschen Discount-Einzelhandelskette platziert hat, weil ihn der dreieckige Freiraum im leuchtenden Buchstaben A bei schummrigen Licht an einem herbstlichen Abend an eine Pyramide erinnert hat? Können Sie Verständnis dafür aufbringen, dass der Verfasser dieses Beitrags das dazugehörige Photo schon recht früh angefertigt und erst beim Lesen des kurzweiligen, episodenhaften Romans erfahren hat, dass Hapeyevas titelgebendes Trampeltier nicht in Ägypten, sondern in Kirgisien beheimatet war und die Protagonistin ihres Textes, die wie die Autorin selbst den Namen Volha Hapeyeva trägt, nicht in Afrika, sondern in Zentralasien auf den beliebten Paarhufer gepflanzt wurde, um für ein Farbphoto zu posieren, obwohl das junge Mädchen dies zu keinem Zeitpunkt, also wirklich keinem Zeitpunkt, für eine gute Idee hielt?

Sorgen Sie sich ein wenig, dass Hapeyevas Roman ähnlich verklausuliert und mit ebenso langen und langatmigen Sätzen daherkommen könnte wie der Text, den Sie gerade lesen und bei dessen Lektüre Sie heftig stolz auf sich sind, dass Sie es schon so weit gebracht haben? Beruhigt es Sie, wenn ich oder aber der Verfasser dieses Beitrags Ihnen versichern, dass dem nicht so ist, da Hapeyeva weitestgehend aus einer kindlichen Perspektive formuliert und in vermeintlich einfacher Sprache die Komplexität ihrer belarussischen Heimat und des so genannten Homo sovieticus verständlich macht? Halten nicht auch Sie es für bereichernd, dass die Autorin ihre spätere Politisierung und ihren feministischen Standpunkt in die Erzählung einfließen lässt und die Geschlechterfrage bzw. das Aufbegehren gegen äußere oder verinnerlichte Geschlechternormen zu einem zentralen Anliegen macht – auch wenn sie dabei riskiert, dass sich ein unüberbrückbarer Graben auftut, dass die unterschiedlichen Perspektiven des Textes, die sowohl kindliche Naivität, „erwachsene“ Abgeklärtheit und ein ideologiekritisches, akademisch geschultes Reflexionsvermögen umfassen, letztlich nicht zusammenfinden? Ist nicht ein anderer Bruch, mit dem der Text arbeitet und mit dem die Autorin nonchalant zu erkennen gibt, mit allen literatur- und kulturtheoretischen Wassern gewaschen zu sein – das Spiel mit Authentizität-Effekten bei gleichzeitiger Infragestellung, ob eine solche Authentizität überhaupt möglich geschweige denn wünschenswert ist –, gänzlich geglückt?

Sind Sie, hier angekommen, nicht auch der Meinung, dass es Ihnen dieser Text im letzten Absatz schuldig ist, zumindest ein wenig vom „eigentlichen“ Inhalt des Romans zu erzählen, der mit einer Reise nach Kirgisien seinen Ausgangspunkt nimmt, mit dem Aufwachsen in einem repressiven Regime fortfährt und mit einer Erzählung Tschechows endet, die der Protagonistin vor Augen führt, dass auf den eigenen Tod „das totale Nichts“ folgt, was gleichsam einen Schlussstrich unter ihre Kindheit setzt? Möchten Sie kurz vor Sendeschluss nicht doch noch erfahren, was Sie ohnehin schon wissen oder ahnen, dass Ihnen der kurze Ritt auf dem Kamel Hapeyevas einen versierten, amüsanten, desillusionierenden Einblick in die späten 80er und frühen 90er Jahre der Belarussischen Sozialistischen Sowjetrepublik ermöglicht?

Dieser Text stellt ausschließlich Fragen. Vielleicht genügt das für den Moment.

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