In diesem Sommer fuhren wir wie immer nicht nach Bratislava. Millionen andere taten es uns gleich. So war das eben.
Wir packten unsere Koffer, besorgten Proviant für die Reise und brachten den Hund zu unserer schrulligen Nachbarin. Das Tier hat sich nicht mal ansatzweise beschwert. Dann ging es in aller Herrgottsfrühe (also wirklich viel zu früh) mit dem Auto los. Und so fuhren wir über Landstraßen und Autobahnen, nahmen Abzweigungen und Umwege und durchquerten kühle Wälder und klebrige Raststätten, um dann letztlich irgendwo zu landen. Aber nie in Bratislava.
Meine Eltern hatten nichts gegen die slowakische Hauptstadt. Sie war ihnen schlichtweg egal. Was es nicht besser macht, ganz im Gegenteil. Das Desinteresse hat sich wohl auf mich übertragen. Sie – also Sie, die diesen Text hier lesen –, Sie wissen doch, wie’s läuft.
Ich war kein schüchternes Kind, ich war ein aufgewecktes Moppelchen. Doch einen Zugang zur Welt fand ich oft nur durch Musik oder Literatur. Meine Eltern hatten beide studiert, in unserer Wohnung gab es viele Bücher. Ab und an nahm mich mein Vater beiseite und erkläre mir, wie wichtig das Lesen sei und dass neue und diverse Perspektiven Verstand und Empathie schulten. Aus diesem Grund gab es ausschließlich westeuropäische und anglo-amerikanische Literatur in unserer Bibliothek.
Dann geschah etwas Sonderbares. Ich sehnte mich nach Bratislava, ein bisschen zumindest. Die Stadt war für mich unerreichbar, obwohl, oder gerade weil sie bei gutem Wetter in der Ferne schimmerte, so bildete ich mir ein. Aber was wusste ich schon? Nicht mal ein einziges slowakisches Buch war mir bekannt. Auch von Ivana Dobrakovovás Mütter und Fernfahrer hatte ich nie etwas gehört. Davon berichten wollte ich dennoch, unbedingt – allein schon, um Sie für Ihre Geduld und Aufmerksamkeit zu belohnen. Und siehe da, es folgt nun also eine Buchvorstellung. Darauf haben Sie doch sicher gewartet, so bilde ich mir ein.
Damit Sie im Bilde sind, beginnen wir mit dem Offensichtlichen: Man darf Ivana Dobrakovová getrost zu den interessantesten slowakischen Schriftsteller:innen der jüngeren Generation zählen. Die 1982 in Bratislava geborene und heute in Turin lebende Autorin und Übersetzerin veröffentlichte bislang vier Bücher [vier? – das Internet lässt mich hier ein wenig im Stich], viele davon wurden mit relevanten Preisen und Auszeichnungen bedacht. Vor allem Mütter und Fernfahrer aus dem Jahr 2018 erwies sich als großer Erfolg und brachte der Autorin den Literaturpreis der Europäischen Union ein. Im Herbst 2022 ist die deutschsprachige Ausgabe in der Übersetzung von Ines Sebesta im Residenz Verlag erschienen.
Also weiter mit dem Allzu-Augenfälligen, wir schauen uns das Buchcover an: Ein weißer Stuhl, ein versteckter Kopf, nackte Füße, im Hintergrund womöglich ein Lagerraum. Nichts daran ist irritierend, eine aparte Kulisse. Dann aber fällt unser Blick auf die Genre-Bezeichnung „Roman“ und das ist dann doch recht merkwürdig, da es sich bei diesem Buch ganz klar um einen Erzählband handelt. Gewiss, die Grenzen sind oft fließend, die Sachlage nicht immer eindeutig, aber hier gibt es keinen Diskussionsbedarf. Der Verlag hat listig einen Köder ausgeworfen. Wir wissen nicht, warum, geben dem Marketing die Schuld, fallen sicher nicht drauf rein und schnappen dennoch gierig zu.
Denn Ivana Dobrakovovás Mütter und Fernfahrer ist ein ganz famoser Erzählband. Das Buch versammelt fünf tragikomische, oft skurrile, atmosphärisch dichte Texte voller überraschender Wendungen, allesamt geschrieben aus einer weiblichen Perspektive. Fünf sehnsuchtsgetriebene Frauen berichten in der Ich-Form von ihrem Leben in Bratislava oder Turin: Svetlana, Ivana, Olivia, Lara und Veronika (bis auf eine Ausnahme tragen die Erzählungen den Namen der jeweiligen Hauptfigur). Sie sind, so ließe sich wohl sagen, Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs – also Frauen, die adäquat auf das reagieren, was ihnen die Welt vor die Füße wirft.
”„Mutter breitet sich aus wie die Schimmelflecken ums Fenster. Sie umschlingt alles, was in ihre Nähe kommt. Sie durchbricht, sie unterdrückt. Sie ist immer um einen herum. Wenn ich bei ihr bin, scheint es mir, als wäre sie doppelt so groß wie ich, als wäre ich nur eines ihrer äußeren Organe, dem es nicht gelang, sich von ihr abzutrennen.“
Ivana DobrakovováMütter und Fernfahrer
Svetlana erzählt von der Alkoholsucht, Gier und den Depressionen ihres stets abwesenden Vaters und verliert dabei ihre eigene psychische Gesundheit aus dem Blick.
Ivana lebt aufgrund einer Erkrankung noch mit Anfang dreißig unter der Obhut ihrer Mutter, wodurch sich ein (obsessiv ersehntes) amouröses Abenteuer mit einem Schriftsteller als eher schwierig erweist.
Olivia – auch sie gesegnet mit einer kontrollsüchtigen Mutter – macht sich darüber Gedanken, ob sie als Frau im mittleren Alter noch begehrenswert ist. Ihr Lieblingsbuch ist Der kleine Prinz von Antoine de Saint-Exupéry, was diese Frage hinlänglich beantwortet.
Lara ist unglücklich verheiratet, parkt ihre Kinder viel zu häufig vor dem Fernseher, fühlt sich einsam in ihrer italienischen Heimat und flüchtet sich in eine Affäre, die sich Pasolini hätte ersonnen haben können.
Auch Veronika, die sich online Véronique nennt, versucht mittels Sex aus ihrer beengt-beengenden Umwelt auszubrechen. Tag und Nacht hängt sie vorm Rechner, um in Dating-Portalen komplett austauschbare Männer kennenzulernen. Beide Parteien sind füreinander reine Projektionsflächen.
Tristesse, Komik und Verzweiflung liegen bei Dobrakovová stets nah beieinander. Viel bleibt uneindeutig, den Erzählerinnen ist ohnehin nicht zu trauen. Bereits der gut gewählte Titel Mütter und Fernfahrer benennt die zwei Pole/Welten/Möglichkeitsräume, zwischen denen die Figuren wie ein Ping Pong Ball hin und her gespielt werden. Mitunter führen sie den Schläger selbst. Ein Leben zwischen Sekurität und Unsicherheit, Maß und Maßlosigkeit, Ponyhof und Medikamentenschrank, Verwurzelung und Aufbruch. Immer ist da ein Sehnen, der Wunsch nach einem besseren, oder schlicht anderen Leben. Und so wartet Veronika in der letzten Erzählung des Bandes gebannt auf die Ankunft eines Fernfahrers mit rotem LKW, der sie aus ihrer schalen Existenz befreit. Doch der Trucker ihrer Träume fährt wie immer nicht nach Bratislava. Nie geht es nach Bratislava.
So ist das eben. Aber wer weiß das schon.
Postskriptum: Ihnen wird aufgefallen sein, dass dieser Beitrag besonders reich an Bildmaterial ist. Warum das Ganze? Nun, es ist natürlich eine Spielerei. Da ich auf Instagram mit dem Bloggen begonnen habe, ist die visuelle Umsetzung von großer Bedeutung. Gerade bei Veröffentlichungen aus den mittel- und osteuropäischen Ländern, sie sind schlichtweg weniger bekannt, ein ansprechendes Bild muss her. Mitunter benötige ich sehr viele Versuche, um an ein geeignetes oder schönes Photo zu kommen. Ich gehe in Ausstellungen, auf Spiel- und Schrottplätze, schlendere durch Straßen und Kaffeehäuser und und und … Im Falle von Mütter und Fernfahrer entstanden sehr viele Bilder. Einige davon teile ich hier mit Ihnen.