Oleksij Tschupa: Märchen aus meinem Luftschutzkeller

Von 23.04. 2020 Bücher

Handwerk eines stümperhaften Übersetzers: Ich stehe vor dir / Nehme die Wucht des Einschlags auf mich / Schutz.

Vermeintliche Nähe, doch die Stimmung grundverschieden. „Protection“ von Massive Attack ist nicht der geeignete Soundtrack für dieses Buch. Tracey Thorn singt von anderen Dingen. Es ist weniger der Track selbst als dessen kongeniale Visualisierung, die zum Erzählband Märchen aus meinem Luftschutzkeller (Haymon Verlag, 2019) des ukrainischen Schriftstellers Oleksij Tschupa führt. Denn das Musikvideo, das Mitte der 1990er Jahre unter der Regie von Michel Gondry entstand, gewährt kurze verstohlene Einblicke in das Leben in einem mehrstöckigen Wohnhaus. Die Kamera bewegt sich über das Gebäude, hält immer wieder inne, fängt in einer One-Shot-Illusion ganz alltägliche Momente ein. Durch die geöffneten Fenster erblicken wir streitende Kinder, die Reparatur eines Fernsehapparats, einen völlig bekifften und über dem Boden schwebenden Bewohner. Draußen geht der Wind, am Ende fällt Regen. Tristesse made in England.

In der ostukrainischen Stadt Makijiwka unweit von Donezk aber steht die Luft. Ein heißer Tag im Juli. Der letzte Sommer vor dem Krieg, der im Jahr 2014 im Donbass ausbrach und bis heute anhält. „Plötzlich war das Land in Aufruhr, die Wesenszüge meiner Nachbarn traten auf einmal messerscharf zutage und waren viel sichtbarer“, notiert Oleksij Tschupa im Nachwort seines Buches, dessen zwölf Erzählungen so farbenfroh leuchten, wie es der Schutzumschlag verspricht. Der Titel des von Claudia Dathe übersetzten Bandes aber führt in die Irre. Denn der darin aufgerufene Luftschutzkeller bezieht sich nicht auf den eigentlichen Inhalt der Erzählungen, sondern auf deren Entstehungsgeschichte: Zehn Tage nach Beendigung des Manuskripts geriet das Stadtviertel Tschupas zum ersten Mal unter Beschuss, so dass er in einen Schutzraum übersiedeln musste, um sich in Sicherheit zu bringen. Mittlerweile lebt der Schriftsteller in der Zentralukraine.

Verwirrung stiftet ebenso die Genrebezeichnung, die das Buch im Titel trägt. Unter einem Märchen versteht man gemeinhin eine phantastische, realitätsüberhobene, variable Erzählung, deren Stoff aus mündlichen volkstümlichen Traditionen stammt und deren Handlung weder zeitlich noch örtlich festgelegt ist. Die Sache liegt also auf der Hand: Eine Märchensammlung hat Oleksij Tschupa nicht geschrieben – auch wenn eine der Erzählungen, in der ein blutrünstiger Geist sein Unwesen treibt und gleich mehrere Morde begeht, als veritables Schauermärchen durchgeht. Den von absurder Komik getragenen Geschichten haftet insofern etwas Märchenhaftes an, als dass sie von wundersamen Begebenheiten berichten. Doch Zeit und Ort dieser Begebenheiten sind genau bestimmbar: Sie alle ereignen sich an einem glühend heißen Samstag kurz vor dem Krieg in der Ostukraine. Zudem spielen sämtliche Erzählungen in ein und demselben Stalin-Bau in einem ruhigen Viertel der Stadt Makijiwka, dem Heimatort des Autors.

"Einmal eingetaucht in den Ozean ukrainischer Bücher, erreicht man das andere Ufer nur schwerlich als gesunder und glücklicher Mensch. Gesundheit, Glück und Zufriedenheit sucht man in der ukrainischen Literatur vergebens."

Oleksij TschupaMärchen aus meinem Luftschutzkeller

Dieses alte Wohnhaus, gelegen an einer breiten Straße mit ausladenden Kastanienbäumen, bildet die inhaltliche Klammer des Erzählbandes, der auch als ein Episodenroman gelesen werden kann. Die Bewohnerinnen und Bewohner kennen sich mitunter seit Jahrzehnten, verweisen im Guten wie im Schlechten aufeinander (zumeist im Schlechten). Gleichzeitig fungiert das Gebäude bzw. dessen Architektur als das strukturgebende Element des Buches. Eine jede Erzählung spielt in einer anderen Wohnung, der jeweils eine Nummer und Stockwerk zugeordnet ist. Anders als bei Gondry, dessen Kamera sich entlang der Fassade eines Hochhauses bewegt und durch die Fenster in einzelne Wohnungen blickt, betreten wir Tschupas maroden Stalin-Bau durch den Haupteingang und arbeiten uns langsam nach oben. Am Ende aber gelangen wir nicht auf das Dach des Hauses, sondern landen ganz weit unten: im titelgebenden Luftschutzkeller, aus dem sich der Autor direkt an uns wendet und uns daran erinnert, dass die von ihm beschriebene Welt längst der Vergangenheit angehört. Ausgelöscht durch den Krieg.

Auch wenn der Krieg in den Märchen aus meinem Luftschutzkeller nicht auftaucht, ist das Themenspektrum der zwölf Erzählungen oft düster. Verhandelt werden Gewalt und Alkoholmissbrauch, Angststörungen, Nationalismus, scheiternde Ehen, Alter und Tod. Dies hindert Tschupa jedoch nicht daran, in vielen Geschichten einen heiter-skurrilen Ton anzuschlagen und uns mit grotesk schillernden Charakteren bekannt zu machen. So begegnen wir schon in der ersten Wohnung einer abgehalfterten und stockbesoffenen Matrone, die das Haus schon viermal in Brand gesetzt hat. Einen Bankangestellten, der herausfinden soll, warum ein Kredit nicht zurückgezahlt wird, schlägt sie mit einer Schrotflinte in die Flucht. Im zweiten Stock wiederum lernen wir eine pensionierte Mittelschullehrerin für ukrainische Literatur kennen, die einen Handwerker mit ihrer Familiengeschichte malträtiert. Dass diese völlig erlogen ist, erfahren wir erst ganz am Ende durch einen hämischen Kommentar ihres Nachbarn.

Die Welt, die uns Oleksij Tschupa in seinem fantastischen Buch nahebringt, mag für immer verloren sein. Doch die von ihm erschaffenen Figuren stehen lebhaft vor uns. Sie nehmen – zumindest für einen Moment – die Wucht des Einschlags auf sich.

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