Angel Igov: Die Sanftmütigen

Von 05.05. 2020 Mai 23rd, 2020 Bücher

Wir wissen, wer du bist, Emil Strezov. Wir sehen, was du tust und wir spüren, was du denkst. Jeder einzelne deiner Schritte wird von uns verfolgt. Selbst im Traum, wenn wir schlafen. Seit Jahren schon. In den Trümmern dieser Stadt sind wir zu Hause, wir Jungs aus einfachen Verhältnissen, hier in Jučbunar, in Sofia. Versteckt hinter Straßenecken, Hauseingängen und dreckigen Fenstern lauern wir dir auf. Wir sehen, was du tust und wir spüren, was du denkst. Einiges wissen wir vom Hörensagen, das meiste aber haben wir mit eigenen Augen gesehen. Denn unsere Augen sind zahllos. Wie könntest du ihnen ausweichen? Wie solltest du uns auf die Schliche kommen, wenn du nichts ahnst von alledem, wenn du uns nicht zur Kenntnis nimmst? Uns Schwarzfahrer der Geschichte, geduckt und leicht zu übersehen. Und doch sind wir es, Die Sanftmütigen, die das Buch deines Lebens schreiben. Das bist nicht du, Emil Strezov. Nein, das bist nicht du.

„Falls sich aber doch einer hinsetzt in der Absicht, ehrlich über diese Dinge zu schreiben, dann müsste sein Bericht widersprüchlich und bruchstückhaft sein, er müsste mit vielerlei Stimmen reden, die unterschiedliche Sachen sagen und ganz unterschiedlich klingen: zwei gleiche Stimmen, das gibt es doch nicht, auch nicht zwei gleiche Augenblicke […].“

Angel IgovDie Sanftmütigen

Wir sind es, denen diese Aufgabe zukommt. Wir haben sie uns angeeignet. Wir sind der Plural, Emil Strezov. Deine Aussage gegen unsere Aussagen. Niemand wird dir glauben. Kein Chor irrt sich gewaltig. Ein antiker Chor aber? Dass wir nicht lachen (mehrstimmig)! Wir sind keine moralische Instanz, kein ideales Publikum, kein allwissender Kommentator. Und dennoch kommentieren wir. Unentwegt. Wir sind ein Fass mit doppeltem Boden. Wir ziehen dir den Boden unter den Füßen weg. Schon seitdem du aus deinem Drecksnest im Iskartal nach Sofia gekommen bist. Auch dein Freund Kosta, den wir seit Jahren drangsalieren, kann ein Lied davon singen. Wenn er denn singen könnte mit seinem k-k-katastrophalen Sprachfehler. Der stramme, aber stotternde K-k-kommunist. Eine Backpfeife hat er verdient! Wir und eine moralische Instanz? Dass wir nicht lachen (ein Husten aus der letzten Reihe)!

Vielleicht wärst du für immer ein verkannter Dichter geblieben, Emil Strezov. Nicht der Rede wert, ein tapsiger Tantenschwarm. Die Karten aber wurden neu gemischt. September 1944. Die Rote Armee zog ein. Kurz darauf ergriff die Vaterländische Front die Macht. Damit war auch deine eigene Zeit gekommen, Emil Strezov. Als Rundfunkreporter mit revolutionärem Eifer hast du deine Sache bereits gut gemacht, doch deine eigentliche Paraderolle stand dir noch bevor. Wer konnte das voraussehen? Wir? Dass wir nicht lachen (herumgeworfen von der Zeit, alle)!

Die Überreste des faschistischen Regimes mussten gnadenlos ausgemerzt werden. Umgehend. Gerechtigkeit schreckt vor nichts zurück. Über 28000 Personen wurden in Untersuchungshaft genommen, bis ein Gerichtsprozess angestrengt werden konnte. Die politische und intellektuelle Elite des Landes sollte ausbluten. Sämtliche Widersacher. Dazu wurden Volksgerichte vorbereitet, deren erste und einzige Aufgabe darin bestand, zu verurteilen. Freisprüche waren nicht vorgesehen. Nicht nur Juristen waren an den Schauprozessen nach Moskauer Vorbild beteiligt, sondern alle möglichen Menschen. Einfache Menschen. Volksvertreter. Und so wurdest du zur Waffe, Emil Strezov. Mit der Macht versehen, über andere zu richten. Vom wortgewandten jungen Lyriker zum verbissenen Ankläger. Doch letztlich nur eine Marionette. In wenigen Augenblicken.

Zuständig für die bourgeoise Intelligenzija, die mit Hitler im Krieg sympathisiert hatte, galt deine ganze Aufmerksamkeit den Archiven. Volksfeindliche Tätigkeit, faschistische Propaganda und üble Nachrede galt es hinreichend zu belegen. Dafür hast du die Nacht zum Tag gemacht, arbeitetest unermüdlich. Wütend, aber penibel. Was aber hatte dir der unauffällige Schriftsteller Rostislav Štilijanov getan? Kein Urteil schien dir hart genug, allein die Todesstrafe angemessen. Diese war dein Ziel. Dein einziges Ziel. Du hast Blut geleckt, Emil Strezov. Wir sahen, was du getan hast. Doch spüren, was in dir vorging, das konnten wir nicht. Wir und allwissend? Dass wir nicht lachen (unser Lachen versiegt nicht)!

Der Roman Die Sanftmütigen des bulgarischen Schriftstellers, Übersetzers und Journalisten Angel Igov erschien 2019 im eta Verlag. Die Übersetzung von Andreas Tretner war für den diesjährigen Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.

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