Marzanna Kielar: Lass uns die Nacht

Von 11.07. 2021 Juli 18th, 2021 Bücher

Szene

Titus van Rijn war das einzige Kind Rembrandts, das das Erwachsenenalter erreichte. Dennoch war ihm kein langes Leben beschieden. Kurz vor seinem 27. Geburtstag fiel er der Pest zum Opfer und starb noch vor seinem bekannten Vater, dem er zu Lebzeiten gleich mehrfach als Modell für Bilder und Studien diente – so auch im Falle des hier gezeigten Gemäldes Titus van Rijn, der Sohn des Künstlers, lesend, das um 1656/57 in Amsterdam entstand. Wichtigster Bestandteil des Titels ist womöglich das beiläufig angehängte Partizip. Denn darin deutet sich bereits an, dass es hier weniger um den Charakter oder die Wesenszüge der abgebildeten Person geht – im strengen Sinne ist das Bild kein Porträt –, sondern das eigentliche Thema des Gemäldes die intime Situation des Lesens ist:

Licht fällt auf das Buch sowie auf Hände und Gesicht des jungen Mannes, dessen Mund leicht geöffnet ist. Da die Praxis des leisen Lesens weitaus jünger ist als weithin angenommen, wird er sich selbst oder seinem Gegenüber während der Modellsitzung laut vorgelesen haben. Die Dynamik der Darstellung und die Kulturtechnik der stillen Lektüre erzeugen eine persönliche Nähe und vertraute Atmosphäre zwischen Maler (Vater) und Modell (Sohn); und letztlich auch zwischen dem Bild und uns, die wir die Szene betrachten.

Szenenwechsel

Die Schriftstellerin und Pädagogin Marzanna Kielar, die 1963 in der ostpolnischen Kleinstadt Gołdap geboren wurde, zählt zu den wichtigsten europäischen Lyrikerinnen ihrer Generation. Bis auf einzelne Texte in Zeitschriften und Anthologien und einem vergriffenen Band in der Edition Solitude aus dem Jahr 2000, waren ihre Gedichte einem deutschsprachigen Publikum bisher jedoch kaum zugänglich. Abhilfe schafft nun die schöne Edition Lass uns die Nacht, erschienen in der Edition Lyrik Kabinett (Hanser Verlag, 2020) und übersetzt von Renate Schmidgall. Der Band vereint Gedichte aus gleich vier Lyrikbänden: Sacra conversazione (1992), Materia prima (1999), Monodie (2006) und Navigationen (2018). Ergänzt wird die Sammlung von einem Nachwort der Übersetzerin, die das eigenständige Schaffen Kielars literaturgeschichtlich kontextualisiert und die vier polnischsprachigen Originalausgaben inhaltlich wie formell voneinander abgrenzt.

Lass uns die Nacht umfasst etwa 100 Texte aus knapp 30 Jahren. Obwohl sich die Stimmung der Gedichte teils massiv voneinander unterscheidet und zwischen freudiger Euphorie und todesgewisser Schwermut mäandert, ist den Arbeiten der Lyrikerin doch eines gemein: Hauptgegenstand ist darin stets die Natur. Ihre Texte widmen sich Gewässern und Anhöhen, Blumen und Wäldern, Hitze und Schatten, Strömen und Wolken. Verorten lassen sich diese präzise beschriebenen Erscheinungen oftmals in der Heimat der Autorin: in den Masuren, der Seen- und Hügellandschaft des historischen Ostpreußens.

Vanitas

Menschen spielen in der farben- und bilderreichen Naturlyrik von Marzanna Kielar nur eine untergeordnete Rolle. Eine Ausnahme von der Regel stellt jedoch eines der schönsten Gedichte des Bandes dar: das Gedicht Telefongespräch, das von der Beziehung zweier Liebender erzählt. Der Titel verspricht einen Austausch, der im Text – zumindest auf verbaler Ebene – nicht eingelöst wird. Das lyrische Ich und das adressierte Du wechseln kein einziges Wort am Telefon, führen keine Konversation.

Stattdessen vernimmt das Ich nur das Knistern eines Feuers und ein Pfeifen ihres Gegenübers, das den Hunden im Garten gilt. Und doch schafft das Telefonat einen Kanal, begleitet von einem weißen Rauschen (die „Störgeräusche“ im Hintergrund), der einerseits eine Verbindung der zwei Liebenden ermöglicht und andererseits die Erinnerung an den vorangegangenen Tag anstößt, den die beiden in Zweisamkeit verbracht haben.

Dieses Gestern war erfüllt von der spätsommerlichen Obsternte, vom Genuss der aufgelesenen Zwetschgen. Nach dem Abendessen liest das Ich in einem Buch über Wassergärten, will sich die Namen von Sumpfpflanzen merken und zählt diese auf. Dann aber, völlig unvermittelt, sagt das Du: „Ich möchte vor dir sterben.“ In diesem Satz manifestiert sich eine tiefe romantische Verbundenheit. Dieser Einbruch des Transzendenten in das Alltägliche verdeutlicht aber ebenso, dass Liebe und Verlust zusammen gehören wie Leben und Tod (Schmidgall).

Das Gedicht endet damit, dass das Du bei der stillen Lektüre einschläft. Das Ich nimmt das Buch und löscht das Licht. Das von Marzanna Kielar geschaffene Bild erzeugt eine persönliche Nähe und vertraute Atmosphäre zwischen Ich und Du; und letztlich auch zwischen dem Gedicht und uns, die wir die Szene lesen.

Lyrik im KHM

Dies ist der zweite Teil einer vierteiligen Lyrik-Serie, die Literatur in einen neuen Kontext setzen möchte. In Kooperation mit dem Kunstvermittler Daniel Uchtmann vom Kunsthistorischen Museum in Wien entsteht ein jedes Buchphoto der Serie in den Räumlichkeiten des KHM. Der jeweils vorgestellte Lyrikband geht dabei eine Verbindung zu einem ausgewählten Gemälde ein. Dies ist im Fall des Bandes Lass uns die Nacht von Marzanna Kielar das Bild Titus van Rijn, der Sohn des Künstlers, lesend (um 1656/57) des niederländischen Malers Rembrandt van Rijn.

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