Mitten auf dem Gehweg steht ein Tino Schlench und schwitzt. Er hat die letzten fünf Stunden im mäßig klimatisierten Zug von Innsbruck nach Wien verbracht, in einem Kaffeehaus beim Westbahnhof schnell noch eine Gulaschsuppe gegessen und ist dann zum Literaturhaus Wien gehetztschlendert, nur um viel zu früh zu seiner eigenen Veranstaltung zu erscheinen. Er würde seine Moderation des kroatischen Autors Edo Popović wohl nicht als „seine eigene“ Veranstaltung bezeichnen, aber involviert ist er ja dennoch, meinen wir. Während der Zugfahrt hat er sich seine Aufzeichnungen noch einmal angesehen, ein paar Ideen und Fragen verworfen, andere ergänzt. Er möchte vorbereitet sein, alles richtig machen und einen guten Eindruck hinterlassen. Doch die Hitze kommt ihm in diesem Punkt nicht gerade entgegen.
Herr Schlench klopft an die massive grüne Tür des Literaturhauses und muss nicht lange warten, bis er hineingelassen wird. Zunächst begrüßt er die Mitarbeiterinnen am Büchertisch und schlurft dann die Treppen hinauf zum Büro der Veranstalterinnen von der IG Übersetzer:innen. Dort kredenzt man ihm sogleich ein großes Glas Wasser und er denkt sich: Wie belebend! Im Anschluss erfrischt er sich zusätzlich in einer Nasszelle (die tatsächlich so heißt) und tauscht sein schwarzes Hemd gegen ein schwarzes Hemd aus. Jetzt kann er sich wieder sehen lassen – auch wenn noch gar kein Publikum da ist, das ihn sehen könnte. Darum begibt er sich wieder auf den Gehweg gleich beim Einlass, schwitzt schon deutlich weniger und steckt sich keine Zigarette an.
Der leicht nervöse Moderator des heutigen Abends begutachtet die passierenden und flanierenden Menschen auf der Straße und muss sich herzlich wundern. Die meisten Menschen gehen einfach am Eingang der Literaturherberge vorbei. Doch ein Blick auf die Uhr (also aufs Telefon) beruhigt ihn. Es ist immer noch sehr früh. Erleichtert schaut er zur Kreuzung Zieglergasse/Seidengasse und sieht dort einen hageren Mann, der genüsslich einen Döner verzehrt. Der zottelige Typ sieht aus wie Edo Popović, denkt sich der Schlench und weiß doch genau, dass es sich ganz gewiss um den kroatischen Autor handeln wird. Gesichter aus dem Internet kann er sich immer gut merken.
Während sich das Publikum einfindet, lobt Edo Popović die Produktpalette des beliebten Fast-Food-Lokals Berliner Döner Wien. Der leicht nervöse Moderator nippt lieber an seinem Wasserglas. Mascha Dabić, jüngst eingetroffen, tut es ihm gleich. Sie hat den aktuellen Roman des Autors übersetzt und wird heute Abend dolmetschen und drei Passagen aus dem Buch vorlesen. Über deren Reihung besteht nun Einvernehmen, es kann also losgehen. Man merkt das auch daran, dass die drei Beteiligten nun auf der Bühne sitzen und der Schlench sowohl Popović als auch Dabić vorstellt. Da er dezidiert nicht aus der Wikipedia zitiert, fühlt er sich sehr professionell. Im Anschluss stellt er das aktuelle Buch des kroatischen Schriftstellers vor. Das Skript liegt uns vor:
Im Roman „Das Leben: es lebe!“ – erschienen im Verlag Voland & Quist – erfahren wir von der Krebserkrankung und Genesung, der Hinwendung, ja der Sucht nach Leben eines namenlosen Ich-Erzählers, der mit seiner Ehefrau in Zagreb lebt, als Kolumnist und Autor tätig ist – und in dem wir, auch aufgrund paratextueller Hinweise – den Autor Edo Popović zu erkennen meinen.
Das Buch beginnt mit einer Irritation. „Ich wusste nicht, wer ich war, was ich war, wo ich war und was das alles zu bedeuten hatte“, heißt es im Text. Der Erzähler erwacht auf der Intensivstation eines Krankenhauses, in einem Glaskasten mit der Aufschrift Isolation (in Großbuchstaben). Nach und nach kehrt seine Erinnerung zurück: an Schlafstörungen, Atemnot, Gewichtsverlust und seine Weigerung, einen Arzt aufzusuchen. Von seiner Frau Lila erfährt er, wie diese die Rettung rief und er auf dem Weg ins Spital das Bewusstsein verlor. Als es im besser geht, landet er auf der Station für Lungenkrankheiten, und erzählt uns – der Text spricht uns Leserinnen und Leser immer wieder direkt an – weniger von seinem eigenen Leid und seinen Schmerzen, als von seinen geräuschvoll-nervigen Zimmernachbarn. Mit spitzer Zunge und in einem recht schnoddrigen Ton, der sich durch den gesamten Text zieht. Der Erzähler hatte eine Lungenembolie und mag gerade fast sein Leben verloren haben, nicht aber seinen Humor.
Im zweiten Teil des Romans mit dem Titel „Rückzug“ wechseln wir den Schauplatz. Wir befinden uns nun in der Wohnung des Erzählers in Zagreb, häufig hält er sich auf dem Balkon auf. Das ist nicht nur seiner Erkrankung und Chemotherapie geschuldet, sondern auch den Lockdowns in der Corona-Pandemie und den Gesprächen mit seinem schwurbeligen Nachbarn Sjena. Sie unterhalten sich von Balkon zu Balkon und können einander nicht sehen (das Glossar informiert uns darüber, dass Sjena auf Deutsch „Schatten“ heißt). Der Erzähler widmet sich Lektüren und Musik und denkt viel nach: über seine Familie, seinen Platz in der Welt, Kindheit und Jugend, Unabhängigkeit und Freiheit, Beruf und Berufung, über Tiere und Menschen. Seine Erkrankung mag Auslöser des Erzählens sein – sie ist nicht sein zentraler Gegenstand. Anstelle sich um seine eigene Gesundheit zu sorgen, denkt er an die Angst um seine Mutter, erinnert sich an ihre lange Krankheit und an ihren Tod, später auch an ihre Zeit als sogenannte Gastarbeiterin in der BRD.
Der dritte und letzte Teil des Romans mit dem Titel „Abbruch“ führt ein weiteres Mal in ein völlig anderes Setting. Der Protagonist hat Zagreb den Rücken gekehrt und lebt nun in einem alten Holzhaus auf dem Land, in einem Dorf, umgeben von Wald. Er kümmert sich um den Garten, lässt sich vom Weltgeschehen kaum ablenken, telefoniert nur dann und wann mit seiner Ehefrau, lernt seinen 95-jährigen Nachbarn kennen und freundet sich mit Katzen und weiteren Tieren an, die er allesamt mit Namen ausstattet. Tiere und Natur scheinen ihm oft näher als die Menschen.
Nach so einer hübsch verständlichen Einleitung weiß ein Tino Schlench sich oft nicht zu helfen. Er hat irgendwann mal Literaturwissenschaft studiert, redet also gern über Form, Struktur und Anlage eines Textes, droppt einige Namen und Referenzen, grinst blöd ein paar Mutmaßungen in Richtung Autor. Das muss nicht immer gutgehen, hier aber schon. Popović beantwortet nicht jede Frage wirklich befriedigend, gibt aber befriedigende, interessante Antworten. Sein Buch sei nicht unbedingt ein Roman, aber ein hübsch fragmentarischer Bastard aus Autofiktion, Essay und Kulturkritik. Nein, den deutschen Titel „Das Leben: es lebe!“ möge eigentlich niemand – das Original (übersetzt in etwa „Wie ich die rosa Roboter gezählt habe“) sei um Längen besser. Ja, das Streben nach Ruhm und Anerkennung sei nicht nur eine schlechte Charaktereigenschaft, sondern auch verknüpft mit mangelnder Urteilskraft.
Edo Popović erzählt von der Arbeit am Text, von seiner Liebe zur Musik, zur Literatur und zum Leben – ein Leben, das er bereits dreimal zu verlieren drohte, im Krieg, durch Krankheiten. Jeden Tag bemühe er sich, das Schöne zu sehen, positiv zu denken. Dieser hervorragende Döner vorhin, das sei heute sein schönster Moment gewesen. Das findet der Schlench angesichts der doch recht angenehmen Unterhaltung auf der Bühne zwar etwas frech, hält sich aber bedeckt. Popović berichtet derweil von Kroatien und Zagreb, von der Literaturszene in Südosteuropa, davon, dass man ihn in Kroatien und auch darüber hinaus eigentlich nur Edo nenne. Seinen Nachnamen habe er irgendwann einfach aufgegeben, er sei sozusagen verschwunden. Das findet der Schlench hingehen sehr sympathisch. Ein charmanter Haudegen, dieser Edo, denkt er sich und will in diesem Text auch nur noch als Tino bezeichnet werden. Diesen Spaß gönnen wir ihm allerdings nicht, da muss er noch ein paar Moderationen abwarten. Dieser Text ist bereits fast vorbei.
Nach der Veranstaltung gibt es ein heftiges Sommergewitter. Es donnert und grollt. Mitten auf dem Gehweg steht ein Tino Schlench und ist durchnässt.