Notizen aus der Ukraine – Aug/Sep 2021

Von 19.09. 2021 Juni 21st, 2024 Magazin

I. Ankommen

 

Das feuchte Ekzem auf dem Handrücken der Bahnangestellten, die beim Einsteigen die Fahrkarten kontrolliert. Meine erste Erinnerung an die Zugreise. Sie gehört an den Anfang dieser Aufzeichnungen.

Man hatte mir resolute Matronen versprochen, die über die ukrainischen Nachtzüge herrschen, Getränke verkaufen und für Ordnung sorgen. Doch im gesamten Waggon ist es ruhig, die Reisenden wissen sich zu benehmen. Das macht die Matronen überflüssig.

Ich habe ein Einzelabteil gebucht. Holzvertäfelung und viele Decken. Alles ist braun. Ich lese in den Argonauten von Maggie Nelson, weil ich auf dem Weg in den Osten etwas aus dem Westen lesen möchte. Ich finde keinen Zugang zum Buch, die Übersetzung ist schlecht. Das hilft mir beim Einschlafen.

Auch wird es bald dunkel. Vom Osten Ungarns sehe ich nur die beleuchteten Bahnhöfe. Budapest hatte sich noch zu erkennen gegeben. Doch welche Stadt ist schön, betrachtet man sie durch ein Zugfenster?

Grenzkontrolle und Spurenwechsel zwischen Mitternacht und 3 Uhr in der Früh. Mehrere Menschen reden auf mich ein und verlangen nach einer Versicherung, von der ich noch nie gehört habe. Vielleicht verstehe ich sie falsch. Niemand spricht Englisch. Die Sache erledigt sich. Schlafen unmöglich.

Lwiw an einem grauen Vormittag. Es ist kalt geworden. Von der Stadt sehe ich nur den Bahnhof und einen Taxifahrer, dem ich sofort zehn Euro in die Hand drücke (zu viel), um zum Busbahnhof zu gelangen. Wir fahren eine Dreiviertelstunde durch die Stadt (zu schnell). Ich kann mich nur auf die Uhrzeit konzentrieren, da ich sehr wahrscheinlich meinen Bus verpassen werde. Gurte gibt es nicht.

Meinen Bus nach Tscherniwzi gibt es nicht. Die Menschen sind auffällig abweisend. Eine junge Frau hilft mir weiter. Sie hat ein Au-pair-Jahr in Innsbruck verbracht, möchte aber lieber Englisch mit mir reden. Mein Bus habe Verspätung. Das sagen ihr diejenigen, die nicht mit mir sprechen wollten. Ein Minibus ohne Kennzeichnung taucht irgendwann auf, der Fahrer ist nett.

Eine Stunde Verspätung, vier Passagiere, fünf Stunden Fahrt.

Die Straßen sind schlecht und voller Schlaglöcher. Die Playlist des Fahrers besteht aus etwa zwanzig gleichklingenden Musikstücken. Bombast-Pop aus Russland und der Ukraine auf voller Lautstärke. Ich kenne kein einziges Lied, aber alles wirkt vertraut. Ich muss lächeln.

Die Lippen der Beifahrerin ganz vorn sind aufgespritzt. Beim Aussteigen an der Tankstelle bleibt eine der Strass-Applikationen ihrer Jacke am Sitz hängen und reißt ab. Sie muss lächeln. Wir kaufen Getränke.

Wir erreichen Tscherniwzi. Es regnet und ist noch kühler geworden. Der Bahnhof ist schön, aber völlig verlassen. Der Fahrer versichert mir, dass er in Betrieb ist. Keine Menschen vor oder im Gebäude. Bis auf die Frauen am Schalter.

Ich warte lange im Regen vor dem Haupteingang, bevor mich eine Mitarbeiterin des Paul Celan Literaturzentrums abholt. In den nächsten vier Wochen werde ich das Internationale Lyrikfestival Meridian Czernowitz unterstützen.

II. Mein Block

 

Ich wohne in einer Plattenbausiedlung im Süden der Stadt. Die Wohnanlage wurde in den 80er Jahren gebaut, doch ich habe sie für älter gehalten. Inmitten der Häuser befindet sich ein großer Spielplatz. Von den Geräten blättert die Farbe.

Das Treppenhaus ist dunkel. Immer benötige ich einen Moment, um mich an das Licht zu gewöhnen und die Stufen auszumachen. Begegnen mir andere Hausbewohner (Kinder und Alte, dazwischen gibt es nichts), lächle ich und flüstere ein „Hallo“ oder „Hey“ in ihre Richtung. Doch nie sehen sie mich an oder erwidern sie meinen Gruß. So als würde ich gar nicht existieren. Können sie mich in der Dunkelheit nicht ausmachen?

Jede Tür im Treppenhaus sieht anders aus. Alle sind so verzogen, so dass man erkennt, ob in der Wohnung dahinter Licht brennt. Meist nehme ich den Fahrstuhl, weil ich es mag, mich ein wenig zu fürchten.

Die Wohnung sieht ein wenig so aus wie der verlebte Spielplatz im Innenhof. Nur dass auf allen Tischen, Kommoden, Sofas und Stühlen Deckchen liegen. Vergilbte hässliche Deckchen. Sie machen alles nur noch schlimmer.

Meine Küchenutensilien: ein gepunkteter Topf, eine Tasse, ein Glas, ein Teller, zwei stumpfe Messer, ein großer Löffel, zwei kleine Löffel. Hinzu kommt eine Gabel, die ich mir ausgeliehen habe. Irgendwann entdecke ich im Wohnzimmer einen Korkenzieher. Seitdem trinke ich Wein.

Am liebsten sitze ich auf dem Balkon. Zum Trinken und zum Rauchen. Von hier aus kann man auf die Straße blicken, die stark befahren, aber ruhig ist. Ein paar Hundert Meter weiter funkelt das goldene Dach einer Kirche in der Sonne. Gleich neben der Kirche befindet sich ein großer Plattenbau, der ebenfalls funkelt. Sowjet-Kitsch.

Wenn ich den Müll wegbringe, muss ich die Straßenseite wechseln. Dort stehen vier Container, die nie überfüllt sind. Vor den Containern versammeln sich die Tauben. Die ganze Stadt ist voller Tauben, die so hartnäckig ihr Revier verteidigen, dass man sie mit dem Fuß zur Seite schieben muss, um voranzukommen. Ich tue ihnen den Gefallen.

Ich dusche in einem kleinen Wannenbad mit grünen Fliesen. Drei Tage am Stück gibt es kein warmes Wasser. An diesen Tagen treffe ich niemanden.

Auch an Tagen mit warmem Wasser gibt es hier keine Waschmaschine. Ich könnte meine Sachen zur Nachbarin bringen, aber das wäre mir unangenehm. Stattdessen kaufe ich in der Drogerie-Kette eva ein pinkes Feinwaschmittel für die Handwäsche. Tropfen schlängeln sich über den Küchenboden bis hin zum Balkon.

Ich sitze auf meinem Balkon. Ich trinke und rauche und schaue auf die Straße. Ich wohne im vierten Stock. Eigentlich ist die vier meine Glückszahl.

III. In der Stadt

 

Der Fußweg in die Innenstadt kostet mich 45 Minuten. Es gibt auch einen Bus, von dem mir alle abraten. Nach ein paar Tagen kenne ich sämtliche Coffee Shops auf dem Weg, weiß, an welchen Stellen Menschen auf der Straße sitzen, um Obst, Gemüse, Kräuter und Blumen zu verkaufen. Manchmal wähle ich den Weg durch den Stadtpark, in dem es auch einen kleinen Rummel mit Karussells und Achterbahnen gibt (die Geisterbahn hat nie geöffnet). Meist gehe ich aber die Hauptstraße entlang, da man im Park nicht rauchen darf. Hier, wie auch in allen anderen Straßen der Stadt, ist jedes zweite Geschäft eine Apotheke. Sie sehen alle anders aus, so fallen sie weniger auf. Warum es so viele davon gibt, kann mir niemand erklären. Niemandem war die Fülle an Apotheken bisher aufgefallen.

Neben der Hauptstraße in der Innenstadt gibt es ein Denkmal für Paul Celan, der in Tscherniwzi geboren wurde. Ihm zu Ehren wurde ein Platz zubetoniert, der nun sehr hässlich ist. Auf der Hauswand hinter dem Denkmal befindet sich eins seiner Gedichte auf Ukrainisch. Ich weiß nicht, um welchen Text es sich dabei handeln könnte. Etwa zehn Gehminuten weiter kann man das Geburtshaus des Autors betrachten. Ein roséfarbenes Haus in einer ruhigen Gasse. Die Gedenktafel hing über zwanzig Jahre lang am falschen Haus gleich daneben. Dort sieht man an der Fassade noch immer die Spuren, die die Plakette hinterlassen hat. Das Geburtshaus der ebenso in Tscherniwzi geborenen Rose Ausländer passiert man weniger zufällig. Es befinden sich etwas abgelegener beim Türkenplatz. Dort steht auch ein Denkmal für die Lyrikerin, klassisch und schön.

Das Paul Celan Literaturzentrum ist sehr klein. Es besteht aus einem Veranstaltungsraum, einer Küche, einem Durchgang mit Stauraum und einer Toilette. Ein Büro im eigentlichen Sinne gibt es nicht. Ab und an fällt das Wasser aus. Ab und an tauchen Touristen auf und fragen, was das Ganze hier soll. Manche von ihnen kaufen einen Lyrikband oder einen Roman, schauen sich um, informieren sich und verschwinden wieder. Wird der Veranstaltungsraum gebucht, was immer wieder vorkommt, zwängen wir uns zu viert oder fünft in die Küche, müssen ruhig sein und trinken Rotwein. Ich mag diese Momente. Vor dem Fenster läuft eine wirre Frau vorbei und fragt Passanten nach Zigaretten, die sie dann hastig raucht. Sie ist jeden Tag hier.

Das Zentrum befindet sich auf der Olha Kobyljanska Straße, benannt nach einer bedeutenden ukrainischen Autorin, die im deutschsprachigen Raum völlig unbekannt ist. Ihr einstiges Wohnhaus ist heute ein kleines Museum, dessen Besuch sich nicht lohnt. Auch das Stadttheater in Tscherniwzi ist nach ihr benannt. Die Straße in der Innenstadt ist der Pracht-Boulevard Tscherniwzis mit vielen Restaurants, Kaffeehäusern, und Geschäften. Vor allem am Sonntag Abend trifft man sich hier zum Flanieren und zum Freunde treffen. Es gibt Musik, Luftballons, spielende Kinder und Zuckerwatte. Die Straße ist mir völlig egal.

IV. Andere Leute

 

Jede Verkäuferin sagt mir beim Bezahlen, dass ihr Wechselgeld knapp sei und ich ihr den Betrag passend geben solle. Zumindest ist es das, was ich verstehe, wenn ich in die grimmigen Gesichter sehe. In der Ukraine zahlt man mit der Karte, Behördengänge sind ohne Smartphone kaum noch möglich. Ich weiß ja, ich bin ein Konservativer.

Artem sagt, ich solle ihn am Samstag auf den jüdischen Friedhof begleiten. Sein Verein treffe sich regelmäßig, um in der Stadt Aufräumarbeiten zu erledigen. Doch ich habe gar keine Zeit. Artem auch nicht. Er heiratet am Folgetag. Aber das weiß zu diesem Zeitpunkt noch niemand in unserer Runde. Wir erfahren davon auf Facebook.

Ira sagt, ich solle unbedingt den jüdischen Friedhof besuchen. Sie habe dort einen Podcast mit Tomer aufgenommen. Aber dort wollte ich ja ohnehin hin. Der Friedhof liegt im Norden der Stadt. Auf dem Weg kommt man am größten Markt von Tscherniwzi vorbei. Die Straßen sind ganz bunt: Riesige Melonen und Netze voller Paprika und Tomaten. Dazwischen Menschen und laute Autos. Doch auf dem Friedhof ist es ruhig. Ich sehe nur zwei weitere Besucher, die sich um Grabstellen kümmern. Viele Grabsteine sind verfallen, zwischen ihnen ragt hohes Gras. Forstwirtschaftliches Gerät hat Schneisen hinterlassen, die aus dem Friedhof einen Acker machen. Ich bewege mich behutsam. Eine verlorene Welt.

Mykyta sagt, dass sich die Stadtverwaltung überhaupt nicht um das Hundeproblem in Tscherniwzi kümmere. Die eigentliche Arbeit würden Vereine erledigen. Tatsächlich ist die Stadt von streunenden Hunden bevölkert. Sie liegen vor Geschäften und Museen und laufen bei Rot über die Ampel. Haben sie eine Markierung am Ohr, wurden sie gegen Tollwut geimpft. Die meisten von ihnen sind friedlich und gepflegt.

Vlada sagt: „She is cursing. She’s very upset.“ Zuvor hat sich Luba etwa zwei Minuten lang auf Ukrainisch über eine Kollegin aufgeregt. Vlada ist eine sehr gute Übersetzerin. Ich habe sie sehr gern. Luba auch.

Andrej sagt, man habe ihn im Club mit Gras erwischt. Er habe auf das kleine Extra in seinem Tabak vergessen. Korruption im Alltag: Für 300 Hrywnja (etwa 10 Euro) Bestechungsgeld durfte er bleiben und wurde nicht hinausgeworfen.

Slava sagt: „You want?“ und bietet mir ein Glas Wein an. Ich sage nur ungern nein. Danach schnorrt er sich zwei Zigaretten. Aber nicht auf der Promenade rauchen, das sieht die Polizei nicht gern.

Juri sagt, er wolle seine Heimatstadt in Fra umbenennen. Das sei doch viel schöner und weniger umständlich als Iwano-Frakiwsk. Frrrrrrrrah. Mit lang rollendem R (eher untypisch in der Landessprache). Mein kurzes Gespräch mit einem der wichtigsten Schriftsteller der Ukraine hätte ich mir nicht schöner vorstellen können. Frrrrrrrrah.

Ich sage gar nichts. Für einen Moment lausche dem Gespräch von Oleh und Olga neben mir, die sich auf Ukrainisch unterhalten. Ein angetrunkener Mann mit Bierglas stellt sich zu uns und fragt, ob wir Deutsche seien. Ich verstehe die Frage nicht. „Du lächelst“, sagt Olga. „Ihr Deutschen, ihr lächelt immer so viel. Daran erkennt man euch sofort.“

Ira sagt, dass man in der Sowjetunion und ihren Folgestaaten nicht unbegründet lächle. Einfach so zu lächeln, das sei ein Zeichen von Dummheit, so sagt man.

Ich bin sehr dumm.

Dumm-di-dumm.

Dieser Text entstand im Rahmen eines Aufenthalts im ukrainischen Tscherniwzi, ermöglicht durch das CrossCulture Programm des Instituts für Auslandsbeziehungen.

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