
Du sitzt jetzt also auf einer Bühne im Wiener Volkskundemuseum. Aus irgendeinem Grund: gar nicht mal so nervös. Aber du bist ja nicht allein, es geht nicht um dich, du musst nur Verantwortung für deine eigenen Worte übernehmen, kein Gespräch leiten, nichts anzetteln. Und du bist ja nicht allein, so wie jetzt vor deinem Laptop. Hier musst du zetteln und verantworten, zumindest denkst du das. Derweil übernimmt sich die Sonne, wandert durch dein Zimmer und blendet dich.
Es ist schon fast Frühling. Die Podiumsdiskussion im Volkskundemuseum war bereits im Herbst. Aber du bist langsam, kannst unmöglich sofort über Erlebtes schreiben, zumindest denkst du das. Und selbst im Nachgang fällt dir das schwer. Jeder Text ist eine Zumutung, eine Qual, nicht nur für deine Leser:innen. Da müsst ihr wohl gemeinsam durch.
Du sitzt jetzt also auf einer Bühne, im Herbst 2024. Du bist Teil der Veranstaltung Perspectives and challenges of literary and cultural cooperation in Central Europe; die Diskussion findet im Rahmen der Konferenz Imagining Central Europe statt. Du betrachtest jetzt, im Frühjahr 2025, ein Photo, das Anna Seidel von den Beteiligten gemacht hat. Die Sitzordnung hattest du schon wieder vergessen. Du hast überhaupt sehr viel vergessen, hattest dich ganz auf das Jetzt (das damalige Jetzt) konzentriert, so erklärst du dir das.
Auf dem Photo: die in der Schweiz lebende belarussische Übersetzerin und Essayistin Iryna Herasimovich, die im Suhrkamp Verlag tätige deutsche Lektorin Katharina Raabe (2021 war sie zu Gast in deinem Podcast), die in Wien lebende ukrainische Schriftstellerin Tanja Maljartschuk, der polnische Autor Ziemowit Szczerek, du mit angeklatschtem Haar und roten Socken, der in Wien geborene Autor und Lektor Martin Thomas Pesl.

Du hast viel vergessen, doch du erinnerst dich. An Maljartschuks Kampfgeist und Verletzlichkeit, an Herasimovichs Elan, ihr Engagement, an Raabes Weitsicht und ihr geflüstertes Insistieren in deine Richtung: Sie haben doch noch gar nicht so viel gesagt, na los, na los! Das hilft dir und du fängst an zu reden, über ausbleibende Übersetzungen, über den deutschsprachigen Buchmarkt, der sich gegenüber den sogenannten kleinen Sprachen immer mehr verschließt, gleichzeitig aber mantrahaft bekräftigt, an neuen/anderen/diversen Perspektiven interessiert zu sein. Anstelle zu verbittern, lachst du darüber.
Du lachst auch über dich selbst, nicht nur heimlich. Du sitzt auf einem Panel über Zentraleuropa, hast ständig mit Literatur aus Polen, Tschechien oder Ungarn zu tun, nie aber wirklich über das Konzept Mitteleuropa nachgedacht. Dir war gar nicht bewusst, wie viel dazu zu sagen wäre, wie viel bereits darüber geschrieben wurde. Du hast es dir einfach gemacht, von den osteuropäischen Literaturen stets im Plural gesprochen, um Unterschiede zu betonen, um auf Vielschichtigkeiten hinzuweisen. Das war und ist nicht falsch, aber einigermaßen unterkomplex.
”„Menschen, die nur in ihrer unmittelbaren Gegenwart leben, ohne Bewusstsein historischer Kontinuität und ohne Kultur, sind imstande, ihr Land in ein Ödland ohne Geschichte, ohne Erinnerung, ohne Echos und ohne Schönheit zu verwandeln.“
Milan KunderaDie Literatur und die kleinen Nationen
Du greifst also zu einem Buch, es ist der schönste Griff, der dir einfällt. Du entscheidest dich für einen Klassiker in Neuauflage. Du liest Der entführte Westen. Die Tragödie Mitteleuropas von Milan Kundera (1929 – 2023). Das Buch ist noch immer erhellend, sonderbar aktuell, und stellt zudem eine gute und kompakte Einführung in das Thema dar. Der schmale Band, übersetzt von Uli Aumüller und erschienen im Kampa Verlag, versammelt zwei stark rezipierte Beiträge des bekannten tschechisch-französischen Schriftstellers, jeweils versehen mit einem kurzen einleitenden Text.
Der erste Beitrag Die Literatur und die kleinen Nationen. Rede auf dem tschechoslowakischen Schriftstellerkongress aus dem Jahr 1967 ist ein Zeitdokument von literaturhistorischer Relevanz. Du liest von der Figur des Übersetzers als bedeutendem Akteur in der bzw. für die tschechische Literatur, liest von der Bedeutung der Kultur für die Rechtfertigung und Sicherung der nationalen Identität, liest vom zunehmenden Bedeutungsverlust kleiner Sprachen, liest von der unbedingt notwendigen geistigen Freiheit für die Entwicklung der Künste.
Du denkst während deiner Lektüre an vergleichbare Reden auf den Schriftstellerkongressen der DDR, an die Wortmeldungen von Christa Wolf, an das problematisch-produktive Verhältnis zwischen den Künsten und der Macht. Denkst auch – vielleicht ist das gar nicht mal so abwegig – an den Band Kafka. Für eine kleine Literatur von Deleuze und Guattari (Wann und warum hast du damit aufgehört, Theorie zu lesen?).

Kunderas Rede über Zensur und Kunstfreiheit, gehalten nur wenige Monate vor dem Prager Frühling 1968, bezeugt die Urteilskraft und Eloquenz seines Autors. Ein runder, schöner Text, noch immer. Und doch fragst du dich, wie jüngere Leser:innen darauf reagieren mögen und ob ein heutiges Publikum dieser Rede viel wird abgewinnen können. Du bist dir nicht ganz sicher. Beim zweiten Beitrag – dem eigentlichen Grund, das Buch zur Hand zu nehmen – stellen sich diese Fragen nicht, denkst du dir. Dieser Text gehört gelesen, gerade jetzt.
”„Mitteleuropa wollte ein verdichtetes Abbild Europas sein, ein erzeuropäisches kleines Europa, das verkleinerte Modell des Europas der Nationen, aufgebaut auf der Regel: maximale Vielfalt auf minimalem Raum. Wie konnte man da nicht angesichts eines Russlands in Angst und Schrecken versetzt werden, das demgegenüber auf der entgegengesetzten Regel gründete: minimale Vielfalt auf maximalem Raum?“
Milan KunderaDer entführte Westen oder die Tragödie Mitteleuropas
Der Essay Der entführte Westen oder die Tragödie Mitteleuropas erschien erstmals im November 1983 (im Jahr deiner Geburt) in der einflussreichen intellektuellen Zeitschrift Le Debát. Das ist über 40 Jahre her. Und obwohl dir Kunderas Text in einigen Belangen ein wenig zu essentialistisch und kulturpessimistisch daherkommt, ist er nicht zuletzt durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine von erschreckender, ja grausamer Aktualität. Du könntest zahlreiche Sätze und Passagen des Essays zitieren, um diese ein wenig zum Klischee gewordene Beobachtung mit Argumenten und Belegen zu unterfüttern.
Aber wie soll das gehen bei einem Text, der auf wenigen Seiten so unglaublich viele Dinge anspricht? Das kannst und magst du nicht leisten, es würde den Rahmen sprengen. Auf einige Punkte, die dir wichtig erscheinen, möchtest du dennoch eingehen. Das ist alles unvollständig, skizzenhaft.

Spricht Kundera von Mitteleuropa, so redet er in erster Linie von Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei. Diese Länder gehören für ihn kulturell ganz unbestreitbar zum Westen bzw. zu Westeuropa – politisch befanden sie sich nach 1945 jedoch im Osten (und werden vermutlich auch gegenwärtig noch häufig dort verortet), was eine grundlegende Identitätsstörung nach sich zog. Die dort stattfindenden Aufstände und Revolutionsbemühungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden stets von Russland niedergeschlagen, was Kundera zur Schlussfolgerung bringt: „An der östlichen Grenze des Westens, in Mitteleuropa eben, war man schon immer besonders empfindlich für die Gefahr der russischen Macht.“ Diese besondere Sensibilität kannst du auch heute noch im heutigen Polen, im Baltikum oder in der Ukraine erkennen. Wie aber gehst du mit Ländern wie Ungarn oder der Slowakei um?
Obwohl sich Kundera in seinen Überlegungen zunächst auf Polen, Ungarn und die Tschechoslowakei konzentriert, begreift er Mitteleuropa im Verlauf seines Essays immer mehr als Kultur- und Schicksalsgemeinschaft mit imaginären Grenzen, die in jeder neuen historischen Situation neu gezogen werden müssen. Was Mitteleuropa zusammenhalte, seien keine politischen Grenzen, sondern gemeinsame Erinnerungen, Erfahrungen und Traditionen.
Die Nationen Mitteleuropas – wenig bekannt, eingezwängt zwischen Deutschland und Russland – nahmen (nehmen) laut Kundera oft Außenseiterpositionen ein; ihre Existenz konnte (kann) jeder Zeit infrage gestellt werden. Doch das wissen die dort lebenden Menschen auch, es gibt für diese Fragilität ein Bewusstsein – und du denkst natürlich an Arendts Auseinandersetzungen mit der (jüdischen) Figur des Parias, die nicht als ebenbürtig anerkannt wird, dadurch aber einen anderen, distanzierteren Blick auf die Gesellschaft zu entwickeln vermag. Die Verwundbarkeit Europas war (ist) den kleinen Nationen viel deutlicher und früher bewusst. Dass (West-)Europa „das Verschwinden seines großen kulturellen Hortes nicht bemerkt, weil es seine Einheit nicht mehr als kulturelle Einheit empfindet“ und in Mitteleuropa ausschließlich Osteuropa sieht, darin besteht für Milan Kundera die Tragödie Mitteleuropas.
In der „desillusionierten historischen Erfahrung“ der mitteleuropäischen Nationen liegt für Kundera aber auch „die Quelle der Originalität ihrer Kultur, ihrer Weisheit, ihres Sinns für den Unernst“. Immer wieder nennt er interessante, teils vergessene oder kaum noch gelesene Autoren, die Beachtung verdienen: Czesław Miłosz, Kazimierz Brandys, Emil Cioran und viele weitere mehr (es lohnt sich, die Fußnoten genau zu studieren). Wie schön wäre eine Aktualisierung vier Jahrzehnte später, ergänzt um neue Namen, vor allem auch um weibliche Stimmen, die Kundera, Kind seiner Zeit, leider unterschlägt. Und wie schön wäre es, wenn die Literatur und Kultur Mitteleuropas auch vom Rest des Kontinents beachtet und angemessen gewürdigt werden würde.
