Flavius Ardelean: Der Heilige mit der roten Schnur

Von 08.03. 2022 Bücher

Da steht er nun. Die Sonne brennt ihm auf das welke Haar und die Füße tun ihm weh. Er fühlt sich erschöpft und ausgelaugt. Doch aus ihm unerfindlichen Gründen möchte er sich nicht beschweren. Bei wem auch?

Er (also ich) ist viel zu lange durch die Stadt gelaufen. Eine halbe Ewigkeit hat es gedauert, zum Gaisterpalast vorzudringen; eine halbe Ewigkeit mehr, dieses Monstrum zu umrunden, um endlich zum gewünschten Eingang zu gelangen. Während des Fußmarschs umschlich ihn immer wieder das Gefühl, das Gebäude würde direkt vor seinen Augen im Boden versinken, mit jedem Schritt (doch davon unabhängig) ein bisschen mehr. Es schien auf Sand gebaut, auf Knochen und Gedärmen. Und obschon die Luft nach Spätsommer roch und kein Hauch von Fäulnis zu vernehmen war, befiel ihn ein sonderbares Unbehagen. Irgendwas stimmte hier nicht. Ein leichter Ekel hatte sich in seiner Kehle festgesetzt, dem selbst mit einem Schluck Wasser der Marke Carpatica nicht beizukommen war.

Da steht er nun vor dem Eingang zum Muzeul Național de Artă Contemporană. Allein, aber nicht einsam, von allen guten und bösen Gaistern verlassen, dafür zurück im Präsens. Er steckt sich eine Zigarette an, weil er in seinen Texten so gern raucht, und schaut dem Palast beim Verschwinden zu (Sie haben doch längst erkannt, dass wir uns in Bukarest befinden und gerade auf den Parlamentspalast blicken!). Die Bausubstanz ist so marode, dass selbst die Vögel einen weiten Bogen darum machen, auf das Gerüst der nahegelegenen Kathedrale ausweichen und vorgeben, sich dort leidenschaftslos zu paaren.

Er (also ich) hat genug vom dürftigen Fiepen und betritt das fast menschenleere Museum. Die Frau am Ticketschalter trägt eine bunte Bluse, hat Lippenstift auf den Zähnen und lächelt ihn an. Der Eintritt ist günstig. Gern würde er sich mit der feisten Frau unterhalten, doch seine (also meine) Unkenntnis der rumänischen Sprache hindert ihn daran. Dabei versteht er sich als Erzähler und lässt es sich gefallen, die langen Wege mit erfundenen und wahren Geschichten zu befrieden, bis niemand mehr weiß, was was ist und wer wer. Er selbst weiß aber ganz genau, dass er den letzten Satz von Flavius Ardelean gestohlen hat. Er findet sich so oder so ähnlich im Roman Der Heilige mit der roten Schnur, der 2020 in der Übersetzung von Eva Ruth Wemme im Homunculus Verlag erschienen ist.

Da steht er nun im großen Saal des Museums, blickt sich um und sucht nach Verbindungslinien. Das ist seine Aufgabe, so meint er. Mit Ardelean unterm Arm betrachtet er die Arbeiten der rumänischen Künstlerin Vioara Bara. Überall sieht er Monster, im Text und an den Wänden gleichermaßen. Angsteinflößende Gestalten, die in all ihrer Devianz geschildert werden, die sich orgiastisch übergeben und dabei Blut und Exkremente auskotzen. Im Falle von Ardelean (auf den er, also ich, sich nun konzentriert) geht das Grauen von ihrer empörenden Körperlichkeit aus, von übelriechenden Ausdünstungen, Verfallsprozessen und völliger Zersetzung. Wiewohl der Roman der dunklen Fantastik zuzurechnen und in einer schauer-märchenhaft-fernen Welt – genauer: zwischen WELT und UNʼWELT – angesiedelt ist, verweist er doch auf jeder Seite auf die Realität und Unumgänglichkeit des Todes.

Er (also der Tod) tritt gleichsam als der Erzähler des Buches auf. Denn vorgebracht wird die Lebensgeschichte des Heiligen Taush aus Gaisterştat von einem Skelett namens Bartholomäus Knochenfaust. Um eine schwere Schuld zu begleichen, macht sich der Untote auf in die Stadt Alrauna, die einst von Taush gegründet wurde. Auf seinem Weg dorthin begegnet er einem einsamen Wanderer, den er auf seinem Planwagen mitnimmt. Dem Pilger erzählt er auf der Reise vom „bunten, wilden, rohen, amüsanten, verliebten und verlumpten“ Leben des abentheuerlichen Taush (Sie haben doch längst erkannt, dass ich hier salopp auf den Simplicissimus verweise!) – einer sonderbaren Erlöserfigur, die schon als Kind über magische Fähigkeiten verfügt und der es bestimmt ist, die WELT in blutrünstigen Kämpfen vor der UNʼWELT zu beschützen.

Da steht er nun, dieser Flavius Ardelean, und gibt sich im Prolog seines Romans als dessen Herausgeber aus. Als ein solcher fügt er den einzelnen Kapiteln barocke Überschriften hinzu, die deren Inhalt ankündigen bzw. vorab zusammenfassen. Die barocke Anlage zeigt sich auch in der Motivgestaltung des Romans: Todesbewusstsein (Memento mori) und Vergänglichkeit (Vanitas) spielen auf mehreren Ebenen eine bedeutende Rolle. Hinzu gesellt sich das dritte barocke Leitmotiv „Nutze den Tag“ (Carpe diem), das in erster Linie vom Erzähler Bartholomäus Knochenfaust beherzigt wird. Denn je weiter die Reise gen Alrauna voranschreitet, desto rabiater bemächtigt sich das Skelett seines Begleiters. Alles hat seinen Preis.

Er (also ich) irrt durch das riesige Museum, das sich über mehrere Etagen erstreckt. Da der Fahrstuhl ausgefallen ist, nimmt er die Treppen und macht unbeirrt ein Buchphoto im bunt ausgemalten Stiegenhaus. Das sollte genügen, denkt er sich. Im obersten Stockwerk befindet sich ein kleines Café und eine begehbare Terrasse. Und darauf steht er nun und blickt auf die gaisterhafte Stadt, die von der Sonne flambiert wird. Vom Baugerüst gegenüber fallen die vögelnden Vögel in die Tiefe. Völlig leidenschaftslos. Doch aus ihm unerfindlichen Gründen möchte er sich nicht darüber beschweren. Bei wem auch?

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