Der rumänische Literaturpreis Sofia Nădejde

Von 09.10. 2022 Magazin

Wie ich auf der Verleihung des Sofia Nădejde Literaturpreises landete und dort alles, wirklich alles verstanden habe.

06. Oktober 2021, 20:00 Uhr

Die Stadt hatte sich abgekühlt. Ich war pünktlich am vereinbarten Treffpunkt, rauchte billige Zigaretten und beobachtete die vorbeieilenden Passanten. Paula* hatte vorgeschlagen, sich vor dem Mega Image bei der U-Bahn-Station Dristor 2 zu treffen, ließ aber auf sich warten. Irgendwann klingelte mein Telefon. Der Anruf bestätigte meine Vermutung, dass wir vor unterschiedlichen Filialen der belgischen Supermarkt-Kette standen. Ganz Bukarest ist damit zugepflastert. Sie würde mich bald finden, versicherte mir Paula am Telefon. Anhand ihrer rosa Plüschjacke wäre sie ganz leicht zu erkennen. Und das war sie auch.

Das Ganze hatte etwas von einem Blind Date, da wir uns zuvor noch nie begegnet waren. Ich kannte einige ihrer Artikel aus dem Calvert Magazine, sie wusste überhaupt nichts über mich. Unsere gemeinsame Bekannte Ioana** hatte uns vermittelt. Wir kamen schnell ins Gespräch und verstanden uns gut. Während wir durch einen Park spazierten, der nur schwach beleuchtet, aber voller Menschen war, erzählte mir Paula von ihrer Kindheit in Chișinău und ihrem Studium in England. Sie hatte lange als Journalistin zwischen Bukarest und London gelebt, bevor sie in der Pandemie ganz nach Rumänien zog und hier ihre Liebe zur Abgeschiedenheit auf dem Land entdeckte. Dass sie auch Lektorin in einem Verlag war und gerade einen eigenen Roman (Ard pădurile, dt. Die Wälder brennen) veröffentlicht hatte, erwähnte sie nur nebenbei.

Wir verließen den Park und steuerten auf ein Lokal in einer kleinen Seitenstraße zu. Neben uns gab es hier kaum weitere Gäste. Paula bestellte sich eine Portion Polenta mit Sauerrahm, ich verlangte nach einem Glas Rosé, weil ich in meiner Zeit in Bukarest ausschließlich Rosé trank (es braucht nicht alles einen Grund). Während die zierliche Frau vor mir einen enormen Berg Polenta in Rekordtempo hinunterschlang und ich mir schon bald ein zweites Glas Wein bestellte, unterhielten wir uns über die rumänische Gegenwartsliteratur. Sie lobte die Schriftstellerin Lavinia Branişte, die auf Deutsch im Mikrotext-Verlag erscheint, und empfahl mir den Autor Adrian Schiop, dessen explizit schwule Texte im konservativen Rumänien regelmäßig für Aufsehen sorgen.

Bei meinem dritten Glas Wein gesellte sich Elena*** zu uns, eine Freundin von Paula, die sich zuvor bereits angekündigt hatte. Auch sie ist Schriftstellerin, verfasst Lyrik, Prosa und Texte fürs Theater. Zudem arbeitet Elena beim Radio und gehört zum Gründungs- und Organisationsteam des Sofia Nădejde Literaturpreises, der seit 2018 an rumänischsprachige Lyrikerinnen und Prosa-Autorinnen vergeben wird. Ich bin mir nicht mehr ganz sicher, ob sie noch im Lokal von ihrer Arbeit erzählte, denn aufgrund mangelnder Kundschaft wurden wir recht zügig von der Kellnerin auf die Straße gesetzt. Es war noch nicht spät und so zogen wir weiter in Elenas nahgelegene Wohnung.

Am Küchentisch berichtete ich den beiden davon, gerade einen Roman von Ioana Pârvulescu zu lesen, da ich einen Podcast mit der Autorin plante (zu dem es aus ganz unterschiedlichen Gründen jedoch nie kommen sollte). Der deutsche Titel des Buches irritierte mich. Das rumänische Original Inocenții (dt. unschuldig) wurde vom Zsolnay-Verlag in das einigermaßen furchtbare Wo die Hunde in drei Sprachen bellen verkitscht. Das fand Paula ziemlich komisch. Weil in ihrem Heimatort Chișinău vor allem die russischsprachige, oft besser gestellte Bevölkerung Hunde hält, würde man in der Republik Moldau davon ausgehen, dass Hunde eigentlich nur russisch verstehen.

Im Anschluss sprachen wir lange über den Sexismus im rumänischen Literaturbetrieb. Paula hatte unlängst eine dreibändige Lyrik-Anthologie herausgegeben, die ausschließlich Texte von Autorinnen versammelt. Die männlich dominierte Literaturkritik reagierte mit Unverständnis und beanstandete vor allem den dritten Band, der sich der jüngeren Vergangenheit widmet. War so etwas denn heutzutage überhaupt noch notwendig? „Was Homophobie und Antiziganismus anbelangt, ist man hier bei uns glücklicherweise sehr sensibel. Ignoranz gegenüber Schriftstellerinnen oder offen zur Schau gestellte Misogynie lassen sich aber immer wieder beobachten“, so Elena. Um auf strukturelle Ungleichheiten zu reagieren, rief sie gemeinsam mit drei Freundinnen den Sofia Nădejde Preis ins Leben. Bevor wir uns verabschiedeten, lud sie mich zur Preisverleihung ein, die nur wenige Tage später stattfinden würde.

17. Oktober 2021, 19 Uhr

Die Stadt zeigte sich von ihrer besten Seite, war sonnig und warm. Nach einem Spaziergang über die Calea Victoriei stand ich viel zu pünktlich vor dem Apollo111, rauchte billige Zigaretten und beobachtete die lose verstreute Menschenmenge vor dem Theater. Das Gebäude lag versteckt in einem Hinterhof, die Poster für die Gala Premiile Sofia Nădejde waren ein wenig zu dezent angebracht (aber es gab ja Google Maps). Irgendwann schlenzte ich ins Theater, die Preisverleihung fand im Untergeschoss statt. Der Saal war dunkel, ich setzte mich in die Nähe des Technikers. Nach und nach fand sich auch der Rest des Publikums ein.

Die Veranstaltung begann recht unvermittelt, ohne das in Deutschland und Österreich übliche Streichquartett oder (schlimmer) DJ-Set. Elena moderierte, wirkte dabei sehr eloquent und holte immer wieder neue Menschen auf die Bühne. Aus jedem der nominierten Bücher gab es eine kleine Kostprobe. Waren die Autorinnen nicht persönlich vor Ort, wurden sie digital zugeschaltet und lasen so aus ihren Texten. Meine eingeschlafenen Französisch- und Italienisch-Kenntnisse ließen mich ab und an ein Wort verstehen. Welche Werke letztlich ausgezeichnet wurden, erschloss sich mir nicht, doch wenigstens die Lyrik-Beiträge wollte ich mir anhören.

Für etwa eine Dreiviertelstunde habe ich durchgehalten, dann schlich ich leise zum Ausgang. In der Nähe vom Apollo111 befindet sich der Control-Club, der über eine schöne Terrasse verfügt. Dort steckte ich mir eine Zigarette an und bestellte mir ein Glas Rosé.

25. Oktober 2021, 17 Uhr

Elena hatte das J’ai Bistrot in der Calea Griviței vorgeschlagen. Ich war gewohnt pünktlich am vereinbarten Treffpunkt, ließ aufgrund einer leichten Verkühlung das Rauchen sein und entschied mich für den schönsten Heizpilz im Gastgarten. Elena ließ auf sich warten, doch damit hatte ich gerechnet. Ich richtete mich ein, beobachtete die Kellner, die in bunte Decken gehüllten Gäste und legte mein Notizbuch bereit. Ich hatte online so wenig zum Sofia Nădejde Preis gefunden, ich wollte mich erneut, diesmal ausführlicher, mit Elena darüber unterhalten. Irgendwann tauchte sie auf, zog eine große Handtasche hinter sich her und war bester Laune. Ich verlangte nach einem Glas Rosé und hörte ihr zu.

„Nein, Sofia Nădejde, die von 1856 bis 1946 lebte, kann nicht unbedingt als eine bekannte Autorin bezeichnet werden. Sie arbeitete unter schwierigen Bedingungen. Wie viele andere Schriftstellerinnen ihrer Zeit hatte sie nur sehr eingeschränkte Publikationsmöglichkeiten. Heute sind ihre Werke nahezu vergessen, werden nicht wiederaufgelegt und finden sich auch nicht auf den Lehrplänen der Schulen – so wie in den Schulen ja ohnehin kaum Frauen gelesen werden. Als Namensgeberin war sie für uns, neben diesem oft geteilten Schicksal, deshalb so interessant, weil sie als erste feministische Autorin Rumäniens gilt. In ihren Texten – und darüber hinaus – setzte sie sich explizit für die Gleichstellung der Frauen ein. Darüber hinaus besitzt schon ihr Name Symbolwert. Sofia bedeutet Weisheit und Tugend, ihrem Nachnamen Nădejde ist die Hoffnung eingeschrieben.“

„Der Preis wird seit 2018 vergeben, jedes Jahr im Herbst. Am Anfang unterstütze uns eine Privatbank, mittlerweile erhalten wir öffentliche Gelder. Die Auszeichnung hatten wir damals ins Leben gerufen, weil bei den klassischen Literaturpreisen tatsächlich fast nur Männer in den Jurys sitzen und auch die Preise meist an männliche Autoren gehen. Das wollten wir nicht mehr länger hinnehmen. Die positive Resonanz hat uns dann aber selbst überrascht. Zur ersten Preisverleihung kamen viel mehr Gäste als erwartet. Auch die Presse war uns gewogen. Anders verhielt es sich im Internet, hier bezeichnete man unseren Preis als die Paralympics der Literatur. Die schärfste Kritik kam von feministischen Stimmen. Uns wurde vorgeworfen, uns an patriarchalen Modellen zu orientieren und marginalisierte Autor:innen auszuschließen. Das war schon bitter.“

„Die Auszeichnung wird in vier Kategorien vergeben: Lyrik und Prosa mit jeweils fünf Nominierten, Lyrik Debüt und Prosa Debüt mit jeweils drei Nominierten. Darüber hinaus gibt es jedes Jahr einen Ehrenpreis, der für herausragende Leistungen im Bereich der Literaturwissenschaft und/oder -kritik verliehen wird. Das Preisgeld ist nicht hoch, doch wir bemühen uns, für möglichst viel Aufmerksamkeit zu sorgen. Im Vorfeld unserer Gala finden zahlreiche Lesungen, Workshops und Podiumsdiskussionen statt. Zudem erhalten die nominierten Autorinnen die Gelegenheit, ihre Arbeiten ausgewählten Vertreter:innen der Filmbranche vorzustellen. In ganz Rumänien kooperieren wir mit Buchhandlungen, in denen die Bücher des entsprechenden Jahrgangs gesondert ausgestellt werden. Und selbst an die Auslandsrechte wird gedacht: Für alle nominierten Werke wird ein Exposé und eine Probeübersetzung angefertigt, auf Englisch, Deutsch, Spanisch, Italienisch und Bulgarisch.“

„Wir glauben an unsere Arbeit und haben noch ganz viel vor. Das Interesse von Presse und Publikum an den jeweiligen Büchern hat sich deutlich erhöht, Verträge für Filme und Miniserien wurden abgeschlossen, auch Auslandsrechte wurden verkauft. Nicht zuletzt konnte ein Auswahlband unserer Namensgeberin realisiert werden, der literarische und journalistische Texte Sofia Nădejdes wieder verfügbar macht.“

Ich bewunderte Elenas Elan, nippte an meinem dritten Glas Rosé und beobachtete die anderen Gäste, die sich an ihre Getränke klammerten. Die Stadt hatte sich abgekühlt. Ich bedankte mich für das Gespräch und steckte mein Notizbuch wieder in die Tasche, in der es für ein ganzes Jahr verschwand. Nachdem wir gezahlt hatten, begleitete ich Elena zu ihrer Busstation. Ich selbst ging zu Fuß in meine Wohnung, sie lag ganz in der Nähe.

Die Photos für diesen Beitrag entstanden in der Buchhandlung Cărturești Verona, einem Kooperationspartner des Sofia Nădejde Literaturpreises in Bukarest. Die nominierten Autorinnen/Publikationen des aktuellen Jahrgangs 2022 finden sich unter folgendem Link.

* Paula Erizanu: Autorin, Journalistin und Lektorin im Cartier Verlag
** Ioana Gruenwald: Leiterin der Agentur Headsome Communications, die sich der Literaturvermittlung und Leseförderung widmet
*** Elena Vladareanu: Autorin, Journalistin und Gründungsmitglied des Literaturpreises Sofia Nădejde

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