Viktor Jerofejew: Der Große Gopnik

Von 26.11. 2023 Bücher

THERE IS AN ELEPHANT IN THE ROOM

Dort hinten im Raum, links bei den Fenstern, da wütet ein Elefant. Er stampft rhythmisch mit den Füßen, bläst Luft aus seinem Rüssel und trompetet unentwegt, hört gar nicht mehr auf. Kleine Gesten sind ihm fremd. Ein schauerliches Spektakel und ein furchtbares Tier, ganz anders als im Hörspiel. Wie gehen wir damit um, wie werden wir der Lage Herr? Was meinen Sie? Hallooooooo?! Töröööööööö?! Ach … Sie sind mit ganz anderen Dingen beschäftigt und haben das Tier gar nicht bemerkt?

BACKSTREET BOY

Ein Gopnik, das ist ein Halbstarker, ein Proll aus den Hinterhöfen, ein düsterer Kleinkrimineller, mit dem nicht zu spaßen ist. Der russische Begriff lässt sich nicht ins Deutsche übertragen, hier in Österreich gibt es immerhin den Strizzi. Früher hat man Zuhälter so bezeichnet, heute steht der Begriff eher für einen durchtriebenen Typen. Ein Strizzi hat es faustdick hinter den Ohren, gebraucht jedoch nicht seine Fäuste, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Man blickt mitunter liebevoll auf ihn. Bleiben wir also beim Gopnik.

Der Große Gopnik ist der König aller Gopniks, der neue russische Hofadel. Von seinem Aufstieg, seiner Macht und seinem Weltbild erzählt der Roman Der Große Gopnik. Aufzeichnungen über das lebende und das tote Russland von Viktor Jerofejew, der unlängst in der Übersetzung von Beate Rausch im Verlag Matthes & Seitz Berlin erschienen ist. Um wen es sich beim größten aller Gopniks konkret handelt, bleibt im Buch unerwähnt. Der Name Wladimir Putin fällt an keiner Stelle. Aber warum auch? Musste man denn beim großen Diktator von Charlie Chaplin lange grübeln, mit welcher real existierenden Person sich der Film auseinandersetzt?

Jerofejew hat einen provokanten, hochpolitischen Roman über Putin, Russland und den Homo sovieticus geschrieben. Das mag so stimmen, greift aber viel zu kurz. Allein, eine befriedigende Zusammenfassung dieses Romans ist schlichtweg unmöglich. Denn Der Große Gopnik hat keine Handlung im engeren Sinne und greift in seinen 181 Kapiteln mitunter völlig unterschiedliche Themen auf. Diese stehen häufig genug in keiner direkten (oft nicht einmal indirekten) Verbindung zueinander. Was aber hält diesen Roman zusammen? Ist es der Autor/Erzähler/Protagonist Viktor Jerofejew selbst? Letztlich ist das Buch über weite Strecken autobiographisch grundiert, erzählt von seinen Eltern, seiner literarischen Laufbahn und seiner Flucht nach Deutschland im Frühjahr des Jahres 2022.

Der Große Gopnik ist alles auf einmal. Es ist ein überbordender und fordernder Roman, gleichsam geschwätzig und erhellend, selbstkritisch und furchtbar eitel, immer aber wunderbar komisch. Mit einem Umfang von etwa 600 Seiten ist das Buch eigentlich noch gar nicht dick genug. Gern hätte man noch mehr erfahren, hätte noch weitere Schleifen im Kopf von Jerofejew gedreht und dabei gebannt aus dem Fenster geschaut, ungläubig, was da vor sich geht.

DER FLUG DER SCHMEISSFLIEGE

Viktor Jerofejew sitzt im Sessel neben mir und trägt einen grauen Hoodie, einfache Hosen und unmodische Halbschuhe. Ab und an muss er husten – eine leichte Erkältung, keine Corona-Erkrankung, wie er uns versichert –, ist aber gut gelaunt und genießt sein Publikum. Es sind viele Menschen an diesem Abend in die Wiener Hauptbücherei gekommen. Jerofejews neuer Roman wird breit rezipiert und mehr als wohlwollend von der Kritik aufgenommen. Das schlägt sich auch in den Besucher:innen-Zahlen nieder.

Wir beginnen mit fast 20 Minuten Verspätung, da Jerofejew trotz Zeitdruck noch etwas essen wollte. Ich kann es ihm nicht lange übel nehmen, denn er ist ein dankbarer Gesprächspartner, der sich für die Beantwortung meiner Fragen sehr viel Zeit nimmt. Ausführlich schildert er Szenen seines Buchs, schweift immer wieder ab, gibt zahlreiche Anekdoten wieder, berichtet von Begegnungen mit Personen des politischen und kulurellen Lebens. Man hört ihm gern zu, denn er weiß zu unterhalten. Als Moderator kann ich mich zurücklehnen. Die eigentliche Arbeit leistet Mascha Dabić, die den Autor vom Russischen ins Deutsche dolmetscht.

In meiner Einleitung – Bitte verzeihen Sie mir, dass ich hier unmöglich das gesamte Gespräch nachzeichnen kann. Es folgt nur ein kleiner Auszug. Während so einer Moderation bin ich sehr angespannt und höre aufmerksam zu, aber nicht, um die zentralen Punkte der Unterhaltung später wiedergeben zu können, sondern um mir stimmige Anschlussfragen zu überlegen und in meinem Kopf vorzuformulieren. Was weiß ich heute noch vom Gespräch mit Jerofejew? Wenig, sehr wenig. – gehe in vorrangig auf die ungewöhnliche Struktur des Romans ein.

Um mich der Anlage und Form des Großen Gopniks zu nähern, werfe ich mit allerhand Referenzen um mich. Jerofejew soll nicht nur merken, dass ich sein Buch gelesen habe – beim Kennenlernen vorab fragte er mich ganz genau das: ob ich denn sein Buch in Vorbereitung auf den Abend gelesen habe –, er soll auch erfahren, dass ich mitunter sogar die Bücher weiterer Autorinnen und Autoren zur Kenntnis nehme. Ich lege also los und gehe zunächst auf den Untertitel seines sonderbaren Romans ein. Aufzeichnungen über das lebende und das tote Russland, das verweise doch ganz klar auf Dostojewskis Aufzeichnungen aus einem Totenhaus (Jerofejew hat über Dostojewski promoviert); und bereits bei diesem Klassiker handle es sich schwerlich um einen Roman im konventionellen Sinne – stattdessen: Szenen und Beschreibungen eines Lebens im Gefängnislager, in der Verbannung.

Im Anschluss stelle ich eine Verbindung zu Péter Nádas her – Sehen Sie, ich mache das gar nicht, um Jerofejew vorzugaukeln, furchtbar belesen zu sein. Ich will hören, was ihm dazu einfällt. Zudem will ich dem Publikum vermitteln, wie dieser Roman ungefähr funktioniert. Die meisten werden ihn noch nicht gelesen haben. –, da mich der Titel des ersten Roman-Teils an den ungarischen Autor erinnert. Haben die Perpendikularen Einsamkeiten nicht einge gewisse Nähe zu den Parallelgeschichten? Nádas entwirft in seinem monumentalen Roman ein Geschichts-Panorama, in dem sämtliche Stränge und Erzählungen von Gewicht sind, sich aber unmöglich zu einer einzigen/einzelnen Story vereinen lassen. Auch bei Jerofejew steht vieles nebeneinander bzw. übereinander – der herrlich prätentiöse Begriff „perpendikular“ bedeutet „senkrecht“.

Gibt es im Großen Gopnik so etwas wie einen roten Faden? Womöglich muss man diese Frage verneinen. Doch sei’s drum: Das Buch erzählt mitreißend von der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Russlands, vom Verhältnis des Landes zum Westen, von den russischen Angriffskriegen, vor allem vom aktuellen Krieg gegen die Ukraine. Jerofejew beschäftigt sich mit dem Aufstieg Wladimir Putins, denkt aber auch auf einer allgemeineren Ebene über Macht und Gewalt nach. Gleichzeitig verhandelt er in seinem Buch, das er seiner Mutter gewidmet hat, immer wieder die eigene Biographie. Unbeirrt schwirrt der Text durch Raum und Zeit.

Diese Bewegung vergleicht Jerofejew im Gespräch mit dem Flug einer Schmeißfliege. Das Tier surrt durch den Raum, setzt sich hierhin, schaut sich dort um – stets in der Gefahr, von einem gut platzierten Schlag aus der Welt befördert zu werden. Aus dieser Perspektive heraus wollte er seinen Text angehen, so Jerofejew. Es ist eine zweifellos politische Perspektive, denn einerseits weiß man um die Vorliebe dieser Insekten für eher „geruchsintensive“ Objekte/Subjekte, andererseits verweist „schmeißen“ im Kontext der genannten Fliege auf den althochdeutschen Begriff für „besudeln“. Und in der Tat ist dieser Roman eine Provokation und sein Autor ein Nestbeschmutzer, der sich kontroversen Themen widmet.

Diesen provokanten Nestbeschmutzer spreche ich – weil er die Bewegung des Flugs ins Spiel gebracht hat – auf einen letzten Text an, an den ich während des Lektüre des Gopniks denken musste: Olga Tokarczuks Roman Unrast, dessen englische Ausgabe den Titel Flights trägt – womit wir wieder beim Fliegen wären. Das Buch der polnischen Nobelpreisträgerin besteht aus Erzählungen, Essays, Anekdoten und Notizen, ist insgesamt recht schwer zu greifen, weist in der Anlage aber doch einige Parallenen zum Großen Gopnik auf. Jerofejew kennt das Buch nicht und kann nichts dazu sagen. Nicht so schlimm, denke ich, nicht so schlimm. Einige Fragen blieben unbeantwortet, andere hat er ein wenig umschifft, trotzdem ein schöner Abend. Doch dass er sein Schnitzel in der Gastwirtschaft Schilling im Anschluss an unsere Veranstaltung nicht aufgegessen hat, das nehme ich ihm schon ein wenig übel.

HEIKE SCHLÜRFT EIN HEISSGETRÄNK UND HAT EINE MEINUNG

Heike bestellt hastig einen Kaffee, den sie, kaum wird er serviert, mit einem guten Schuss Wasser verdünnt. Ich bin doch ohnehin schon so aufgebracht, was denkst du denn, sagt sie. Trotzdem muss ich trinken, ganz viel trinken, muss das alles runterspülen. Das muss alles runtergespült werden. Alles. Zu viel von allem in letzter Zeit. Das hält kein Mensch aus, sagt Heike. Ich will nicht darüber reden.

Aber lesen, lesen geht, und das Buch vom Jerofejew hat mir viel besser gefallen als erwartet. Was hatte ich denn eigentlich erwartet, grübelt Heike. Ich lese so selten dicke Bücher, weil ich furchtbar ungeduldig bin. Der Gopnik war dahingehend eine Herausforderung. Ging trotzdem, passiert ja ständig etwas Neues. Alle paar Seiten eine Überraschung. Ob die einzelnen Kapitel jetzt wirklich immer etwas miteinander zu tun haben, das frage ich mich noch immer, fragt sich Heike. Aber sag mal, willst du wirklich keine Anführungszeichen in den Text einfügen? Versteht doch sonst kein Mensch, wer hier was sagt, sagt Heike.

Lese ich einen Roman – und das gilt auch für politische Romane, die sich mit unserer sogenannten Gegenwart auseinandersetzen, ja vielleicht gilt das sogar in noch viel stärkerem Maße für politische Romane, die sich mit unserer sogenannten Gegenwart auseinandersetzen –, dann gehe ich eigentlich nicht davon aus, dass mir dieser Roman tatsächlich etwas über unsere sogenannte Gegenwart verrät. Dass er einen wie auch immer gearteten Erkenntnisgewinn darstellt. Aber der Gopnik leistet das, sagt Heike, der leistet das. Also hier erfährt man doch wirklich etwas über die russische Gesellschaft und Putin und den verschissenen Krieg gegen die Ukraine, nicht? Also ich meine schon.

Eine Sache stört mich dann aber doch, sagt Heike. Das ganze Rumgebumse! Klar scheint mir das alles irgendwie ironisch oder meta oder wasweißich gemeint zu sein, aber im Grunde haben wir es hier doch mit den klassischen heterosexuellen Männerphantasien zu tun. Immer wieder werden Körper sexualisiert, vor allem weibliche Körper, aber alle anderen auch. Brüste hier, Anus dort. Vielleicht bin ich zu prüde, fragt sich Heike, aber das scheint mir so ein Ding bei den Russen zu sein. Ist doch bei Sorokin ähnlich, oder? Den Kampf gegen die literarischen Traditionen, gegen Tolstoi, Gogol oder Dostojewski, den führen die russischen Autoren der Gegenwart allesamt mit dem Schwanz!

All das sagt mir Heike, ohne sich auch nur ein einziges Mal an ihrem verdünnten Kaffee zu verschlucken. Doch ihre Tasse ist ohnehin längst ausgetrunken. Wann hat sie denn das gemacht, frage ich mich.

KYJIW BIENNALE

Ich frage mich, wann ich zuletzt in eine Ausstellung gegangen bin, ohne mir vorab Gedanken darüber zu machen, welche Bücher ich in meine Tasche packen könnte, um sie gegebenenfalls in einem musealen Kontext zu photographieren. Ich weiß es nicht mehr. Aber irgendwann wurde es langweilig, nur hüsche Bilder für Instagram zu produzieren, die den dortigen Sehgewohnheiten entsprachen – Dass ich auf Instagram mit dem Bloggen begonnen habe, ist Ihnen natürlich längst aufgefallen. An welche Plattform erinnert Sie denn der Aufbau meiner Webseite? Na? Glauben Sie bitte nicht an Zufälle! –, und so nahm ich mir vor, soweit es mir denn möglich war, Literatur in eine Beziehung zu Kunstwerken zu setzen. Manchmal subtil, mitunter plump und right in your face. Die Bilder sollten mehr sein als eine Illustration, irgendwie. Beim Besuch der Kyjiw Biennale im Wiener Augarten Contemporary hatte ich den Gopnik im Gepäck. Das lag auf der Hand, so meine ich.

Die erste unabhängige Kyjiw Biennale fand 2015 statt, ein Jahr nach Kriegsbeginn im Osten des Landes. Seit dem 24. Februar 2022 hat sich der Krieg auf die gesamte Ukraine ausgebreitet. Die Biennale 2023 findet dennoch statt, ist jedoch als europäisches Projekt angelegt, das – ich zitiere die Webseite – „in Zusammenarbeit mit führenden europäischen Institutionen im Bereich der zeitgenössischen Kunst, mit Ausstellungen, Diskursveranstaltungen und öffentlichen Programmen in einer Reihe von ukrainischen und Städten in der EU realisiert wird.“ Zu den Städten außerhalb der Ukraine gehört neben Warschau, Lublin, Antwerpen und Berlin auch Wien, wo die Kyjiw Biennale an gleich mehreren Standorten stattfindet.

In den Ausstellungsräumen der Augarten Contemporary – Die Biennale läuft noch bis zum 17. Dezember 2023, der Eintritt ist kostenlos. Schauen Sie sich das doch bitte an, so in Wien! – finden sich ganz unterschiedliche Arbeiten internationaler Künstler:innen. Viele Bilder, Skulpturen und Installationen setzen sich direkt mit dem Krieg gegen die Ukraine auseinander, die wenigsten Werke lassen sich dabei auf eine einzelne oder konkrete Aussage reduzieren. Für diesen Beitrag habe ich eine kleine Auswahl getroffen. Eingeflochten sind Arbeiten vom ukrainischen Kollektiv DE NE DE (Salute, 2022), vom deutschen Photographen Friedrich Bungert (zwei Photos aus der Serie Versehrte, 2023), von der neuseeländischen Malerin Judy Millar (Hollow Bones, 2017), von der polnischen Künstlerin Zofia Kulik (Man Bomb, 1990), vom rumänischen Künstler Dan Perjovschi (Wandzeichnungen ohne Titel, 2023) und vom ukrainischen Künstler Anton Shebetko (It’s not your problem, 2022).

Der Roman Der Große Gopnik geht in diesem Beitrag eine Verbindung mit der Installation There is an elephant in the room (2019) des dänischen Künstlerkollektivs SUPERFLEX ein. Beide Werke verweisen bereits im Titel auf ein dringendes Thema, das allen bewusst ist und dennoch (oder gerade deshalb) verdrängt wird. Zudem hinterfragen sie politische und gesellschaftliche Handlungsspielräume und Verantwortlichkeiten. Was aber ebenso gesagt werden muss: Die Metapher vom Elefanten im Raum, heute vornehmlich im Englischen verbreitet, stammt ursprüchlich aus dem russischen Sprachraum. Im Englischen geht die Redensart wiederum auf Dostojewskis Roman Die Dämonen zurück, der an einer Stelle Bezug auf Iwan Krylows Kurzgeschichte Der Wissbegierige nimmt. Darin wird von einem Museumsbesucher erzählt, der sich derart auf kleine Exponate fokussiert, dass ihm der große präparierte Elefant gleich in der Nähe völlig entgeht. Der Raum war also immer ein Museum? Hallooooooo?! Töröööööööö?!

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