Ilya Kaminsky: Republik der Taubheit

Von 09.02. 2025 Bücher

Versuchen wir es doch einmal so. Und wenn nicht, dann nicht, dann dann dann bricht der Text einfach

ab. Zunächst aber das.

Bevor wir zum Lyrikband Republik der Taubheit von Ilya Kaminsky kommen – übersetzt von Anja Kampmann, 2022 erschienen im Hanser Verlag –, eine kleine Einleitung (Hinführung zum Eigentlichen? Haha-haben Sie je einen Text von mir gelesen?):

Ich bin ganz woanders, ich bin in Skopje. Es ist ein verregneter Tag Anfang Oktober. Immer wieder schwere Schauer, doch es ist warm, warm in Wellen, schwül unter meinem Schirm. Ich spaziere über den fast menschenleeren Campus der St. Kyrill und Method Universität, der nicht weit vom Stadtzentrum entfernt liegt. Nur ein Mann mit seinem Hund. Nur ein Mann mit seinem Sohn, sie spielen Fußball.

Die brutalistischen Gebäude bäumen sich auf. Graue, schöne Geister. Ich war schon vor ein paar Tagen hier. Ich möchte sie wiedersehen, die Geister.

Zwischen den Bauten kleine Pfade, Kiefernholz. Fast riecht es nach Meer. Irgendwann entdecke ich etwas abgelegen eine Sporthalle, einige Fenster und Türen sind eingeschlagen, überall liegen Scherben. Ich will mir das ansehen. Beim Betreten des Gebäudes knirscht es unter meinen Füßen und mir wird mulmig zumute. Würde mich hier jemand entdecken, jemand mit dunklen Absichten, dann wäre ich völlig ausgeliefert. Doch wie es scheint, bin ich allein.

Es ist hell und still, eine nackte Halle mit wenigen Objekten. Das, was da ist, ist zerschlagen oder liegt dort, wo es nicht hingehört. Staub und Dreck stauen sich, Schlieren auf dem Boden. Die Wände sind besprüht, wollen sich mitteilen, aber ich beherrsche diese Sprache/n nicht. Ich erkenne nur die Zerstörungswut, den stumpfen Vandalismus.

Und ich mache Photos. Immer mache ich Photos. Immer habe ich ein Buch dabei, bei jeder Gelegenheit, warte auf den richtigen Moment. Und dann mache ich ein Photo. Dann mache ich ganz viele Photos, fange ein, was einzufangen ist. Auf dass Buch und Raum in einem Bild eine Verbindung eingehen, die Auseinandersetzung mit Literatur auch auf eine visuelle Ebene überführt wird. Das stelle ich mir schön vor. Manchmal gelingt es mir, vielleicht. Aber das entscheiden andere.

Dann trete vor eine umgestürzte, kranhafte Konstruktion und brauche einen Moment, um darin eine mobile Halterung für einen Basketballkorb zu erkennen. Vor das kaputte Gebilde stelle ich Ilya Kaminskys Lyrikband Republik der Taubheit, ein Buch, das von mutwilliger Zerstörung, Mord und Auslöschung erzählt. Dann drücke ich ab. Dann drücke ich gleich mehrfach

ab. Zunächst aber das.

Bevor ich zur Republik griff, hatte ich schon viel von Kaminsky gehört und gelesen, das dürerhafte Cover in einigen Buchhandlungen gesichtet. Ein großer Titel, einige wichtige Preise. Ein prominenter Autor, in zahlreichen Zeitschriften erschienen, selbst die Übersetzerin Anja Kampmann eine bekannte Lyrikerin. Das hat den Hanser Verlag trotzdem nicht dazu motivieren können, ihr einen Platz auf dem Cover des Buches zuzugestehen. Die Übersetzer:innen sind immer hungrig.

Vor dem eigentlich Text (Haha-haben Sie sowas schon mal gehört?) widme ich mich gern den Paratexten – also den Nebentexten, die ein Werk umgeben oder begleiten. Und so schaue ich mich um, beginne ein Buch gleichzeitig von vorn und von hinten und in der Mitte. Und blättere.

Es ist ein schön gestalteter Band, stimmig, ausreichend Platz für die Gedichte von Ilja Kaminsky und die Illustrationen (Gebärden, Handzeichen) von Jennifer Whitten. Ich blättere und suche nach Irritationen.

Auffällig sind die umfangreichen Dankesworte am Ende, oder genauer: die Vielzahl an Menschen und Institutionen, bei denen sich Kaminsky im einzelnen bedankt. Herausgeber:innen von Zeitschriften und Anthologien, Stiftungen und Verlage, aber auch etliche Schriftsteller:innen, „die mir geholfen haben, ein besserer Mensch und Autor zu werden“, wie er etwas schwülstig schreibt. Darunter Namen wie Charles Simic, Tomaž Šalamun oder Adam Zagajewski. Alte Meister. Eine Ahnenreihe? Ich blättere.

Meine vorläufige Buchbegehung endet mit der U4, der Rückseite des Bandes. So man ISBN, Adresse der Verlagswebseite und Preisangabe ausklammert, finden sich darauf drei Texte. Auf diese möchte ich eingehen. Und frage mich, ob sich der Band nicht ausgehend von diesen drei Paratexten begreifen oder zumindest vorstellen ließe. Dass ich den eigentlichen Text (jaja) im Moment des Schreibens schon kenne, jetzt, hier, in diesem Moment, das wissen Sie ja längst. Aber hält mich das vom gewählten Vorhaben einer Annäherung

ab? Zunächst einmal nicht. Versuchen wir es doch so. Und wenn nicht, dann nicht, dann dann dann bricht der Text einfach auseinander. U4, drei Paratexte:

EINS

Die herzzerreißende Parabel des Ukrainers Ilya Kaminsky konfrontiert uns mit Kriegsbildern von prophetischer Kraft: Sie ist zugleich Liebesgeschichte, Elegie und ein dringendes Plädoyer gegen das Schweigen.

Kein Umschlag, daher auch kein Klappentext im engeren Sinne. Dafür, ganz oben, ein Satz, der dieselbe Funktion erfüllt. Ein Teaser, der das zentrale Thema des Bandes herausstellt. Kriegsbilder, Kriegsgeschehen. Die fiktive Stadt Vasenka, belagert von feindlichen Soldaten. Nach dem Mord an einem gehörlosen Jungen auf offener Straße formiert sich Widerstand gegen die Besatzer. Ein womöglich hoffnungsloser, gleichsam subversiver Protest, der mir der Erfindung einer eigenen Gebärden-/Zeichensprache einhergeht. Die Sprache der Kriegstreiber wird von den Einheimischen von nun an weder gesprochen noch verstanden. Vasenka wird zur Republik der Taubheit. Das ist nur eine Lesart, wie alles hier, aber das wissen Sie ja längst.

Kaminsky wurde 1977 im ukrainischen Odessa geboren und wanderte mit seiner Familie im Jahr 1993 in die USA aus. Er schreibt auf Englisch. Der Klappentext vermeidet es, seine Gedichte bzw. deren Schauplätze explizit in der Ukraine zu verorten. In gewisser Weise tut er es dann aber doch. Indem der ukrainisch-russisch-jüdisch-amerikanische Schriftsteller ausschließlich als Ukrainer bezeichnet und seinen Kriegsbildern eine prophetische Kraft zugestanden wird, entsteht, so meine ich, ganz unweigerlich der Eindruck, der Band – im Original im Jahr 2019 unter dem Titel Deaf Republic erschienen, also drei Jahre vor dem großangelegten russischen Überfall am/ab 24. Februar 2022 – beziehe sich auf den Krieg Russlands gegen die Ukraine.

Ilya Kaminskys Gedichte sind schockierend, aufrüttelnd und berührend, sie sind all das und mehr, auch aufgrund der hervorragenden Übersetzung von Anja Kampmann. Diese Parabel über die Natur des Krieges, über Solidarität und Widerstand in finsteren Zeiten jedoch vorrangig oder ausschließlich mit dem Russisch-Ukrainischen-Krieg in Verbindung zu bringen – der seit dem Jahr 2014 herrscht, auch wenn er lange Zeit als Konflikt oder Krise abgetan wurde –, würde dem Buch nicht gerecht werden.

ZWEI

„Ein Besuch in der Republik der Taubheit wird jeden verändern.“

New York Review of Books

Ein gut gewählter Blurb, der Interesse weckt. Ein angesehenes Magazin, Verfasser:in unbekannt. Die Übersetzung irritiert mich ein wenig, denn müsste es nicht „Ein Besuch DER Republik der Taubheit“ heißen? Vermutlich eine Geschmacksfrage. In erster Linie aber ist das Zitat ein großes, sehr großes Versprechen, ohne Kontext völlig offen – ich kann die vollständige Besprechung nicht online finden und demnach nur mutmaßen, von welcher Art Veränderung hier die Rede sein könnte – und unmöglich zu überprüfen. Also perfekt. Und in gewisser Weise eine Einladung zur Selbstbefragung.

Kaminskys Republik der Taubheit weiß auf ganz unterschiedlichen Ebenen zu überzeugen. Für besonders beeindruckend – und eben auch: überraschend, horizonterweiternd, den Blick verändernd – halte ich jedoch die ungewöhnliche, hybride Form seines Bandes, die Lyrik und Dramatik miteinander verschränkt. Da zahlreiche Gedichte überdies einen erzählenden Charakter haben, einige Texte zudem als Prosagedichte gewertet werden können, hält auch noch die dritte große Gattung, die Epik, Einzug in das Buch. Diese formalen Grenzüberschreitungen geschehen scheinbar mühelos, wirken völlig schlüssig. Und verstärken die Lesbarkeit bzw. Zugänglichkeit des Bandes – Kategorien, die für viele (potentielle) Leser:innen zeitgenössischer Lyrik von großer Relevanz sind.

Die Nähe zu einem Theatertext erschließt sich schon auf den ersten Seiten des Bandes. Denn gleich nach der Widmung, einem ersten Gedicht, das als Prolog fungiert, sowie der Titelangabe folgt im Buch eine Liste der (so betitelten) Dramatis personae. Diese Aufzählung verschafft nicht nur einen Überblick über die handelnden Figuren und deren Verhältnis zueinander, sie deutet auch Inhalt und Struktur des Bandes an (was dazu ver/führt, die Gedichte im Anschluss chronologisch zu lesen, im Glauben an eine klassische, greifbare Handlung).

Zusätzliche Orientierung verschafft der Aufbau der Republik in zwei Akte: Der erste Akt dreht sich um den Mord am gehörlosen Jungen Petya und das Puppenspieler-Ehepaar Sonya und Alfonso Barabinski. Im zweiten Akt steht die Puppenbühnen-Besitzerin Momma Galya Armilinskaya im Vordergrund. Sie führt den Aufstand gegen die Besatzer an. Dies natürlich nur ein kleiner Abriss. Erzählt werden diese und weitere Geschichten von einem chorischen Wir, den Einwohner:innen der Stadt Vasenka, die sich immer wieder einschalten.

DREI

Einem Wir begegnet man auch in den zwei Gedichten (Prolog und Epilog), die den Band rahmen. Es ist ein anderes Wir als dasjenige der Einwohner:innen der Stadt Vasenka. Denn dieses Wir – als Leser:in fühlt man sich angesprochen, unmittelbar miteingeschlossen – betrachtet das Kriegsgeschehen von außen und ist doch involviert, nichts anderes ist möglich. Und so war es eine schlüssige Wahl, dieses erste Gedicht, den Text Wir lebten glücklich während des Krieges (ohne Nennung des Titels) zum Paratext zu machen und auf der Rückseite abzudrucken.

Das Gedicht vermittelt einen guten Eindruck bzgl. Sprache und Stil des Bandes, ohne wirklich repräsentativ zu sein. Der mit Widersprüchen, Ambivalenzen und mantrahaften Wiederholungen arbeitende Text spricht u. a. vom Engagement, zweifelhaften Unvermögen und vom Schuldempfinden derjenigen, die nicht direkt von Krieg und Zerstörung betroffen sind, sondern diesen privilegiert und wohlsituiert aus der Ferne betrachten, auf den Zuschauerrängen sitzen. Eine Publikumsbeschreibung, bevor es in der Folge um das eigentlichen Bühnengeschehen, die Republik der Taubheit gehen wird.

Hier geht nun alles dem Ende zu, mein gebrochener Text sowieso. Nur ein Versuch, eine Annäherung. Doch eine Bemerkung noch, auch wenn ich mich wiederhole. Wie interessant und wie ernüchternd, dass der werbende Klappentext die prophetische Kraft des Bandes herausstellt – und darin steckt, zumindest für mich, eben auch ein naiv-selbstmitleidiges: Warum haben wir das nicht schon früher gesehen? – Ilya Kaminsky aber bereits im ersten Gedicht seines Lyrikbandes mehr als deutlich herausstellt: Wir haben alles gesehen, unsere Augen waren offen. Wir haben die Zeichen der Zeit erkannt, alles lag vor uns, doch wir haben zu wenig getan. Viel zu wenig.

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