Ştefan Agopian: Handbuch der Zeiten

Von 18.12. 2018 März 4th, 2020 Bücher
Tino Schlench - Literaturpalast - Stefan Agopian - Handbuch der Zeiten

Eine Bildbetrachtung: Dies ist eine Telefonzelle – Relikt einer vergangenen Zeit und heute nahezu vergessen. Eine diebisch-nostalgische Freude stellt sich ein, so man eines der verbliebenen Exemplare zu Gesicht bekommt. Aber wann passiert das schon? Ein ähnlich wehmütiges Wohlgefallen lösen die Begrifflichkeiten und der Wortschatz aus, die Ştefan Agopians Handbuch der Zeiten (Verbrecher Verlag, 2018) so besonders machen. Hier gluckert der Bocksbeutel im Herbarium, hier wird berichtet von verlustig gegangenen Professionen wie dem Nippeshausierer, dem Großkürschner, dem Wollsackweber oder dem Produzenten herrschaftlicher Pelzballon- und Lederquerkappen. Dass man viele der sprachverspielten Passagen des Buches laut vorlesen möchte, ist auch der hervorragenden Arbeit von Eva Ruth Wemme zu verdanken. Sie hat Agopians (post-)modernen rumänischen Klassiker – erstmals veröffentlicht im Jahr 1984 – ins Deutsche übertragen.

„Aber Ioan hielt ihn rechtzeitig auf, denn ein großes, neugieriges Ohr entstand in der Wand. Sie urinierten in den Trichter jenes Ohrs, dann spuckten sie hinein und das Ohr zog sich zurück in die schimmelige, feuchte Mauer.“

Ştefan AgopianHandbuch der Zeiten

Dass das Handbuch der Zeiten noch während der Diktatur Nicolae Ceauşescu erscheinen und die Zensurbehörden des Landes unbeschadet passieren konnte, mag verwundern. Zu offensichtlich sind die vielen Seitenhiebe auf das politische Regime und den rumänischen Geheimdienst Securitate. Von Ohren in Wänden ist die Rede, von nach Wanzen stinkenden Herbergszimmern. Doch Agopian verlegte die Handlung seines Romans aus strategischen Gründen in das frühe 19. Jahrhundert und entschärfte die zu erwartende Kritik bereits im Voraus.

In seinem Text lässt er ein Beckett-haftes Zweiergespann – bestehend aus dem Geografen Ioan und dem Armenier Zadic – durch die Lande ziehen, Kämpfe ausfechten, märchenhaften Wesen begegnen und sehr viel Fusel konsumieren: „Heute wird wohl Mittwoch sein?“, sprach der Armenier, „Denn, soweit ich mich erinnere, haben wir dienstags beschlossen, uns zu betrinken.“ Es ist ein rauschhafter, skurriler Roman, der absurd beginnt und im Verlauf der Handlung (Handlung?) immer mehr ins Phantastische zerfasert. Eine lohnende Lektüre für all diejenigen, die auf Stringenz und Bedeutung auch einmal verzichten können.

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