Die unerträgliche Unschärfe einer Photographie. Ein Grauschleier trübt den Blick. Autor und Titel kaum zu erkennen, doch ein Buch wird es wohl sein. Daneben (und darunter?) ein paar blasse Sammeltassen, selten verwendete Erbstücke des Verfassers dieser Zeilen. Zeilen, die zunächst auf Instagram geteilt wurden, wo solcherart Nippes gut zieht. Denn mit einer Kaffee- oder Teetasse im Bild wird’s gleich wohlig und gemütlich. Und so wurde hier auf ein Heißgetränk verzichtet.
Selbst wenn man die porträtierte bibliophile Ausgabe der Erzählung Die Enzyklopädie der Toten (Ein ganzes Leben) des jugoslawischen Schriftstellers Danilo Kiš (1935-1989) in der Hand hält, erschwert deren Schriftbild das sofortige Erkennen des Geschriebenen. Ein Konzept, das sich im Innenleben des Buches fortsetzt und das Lesetempo perpetuell drosselt. Denn der vierzehnte Band der Typographischen Bibliothek – ein Gemeinschaftsprojekt des Wallstein Verlags und der Büchergilde Gutenberg – ist durchzogen von einem mehrspaltigen Register, das hinter/unter dem eigentlichen Text der Erzählung liegt. Dieses Register versammelt mehr als 6000 Lebensdaten fiktiver Personen, deren Namen aus dem serbokroatischen Sprachraum des Autors stammen. Sie tauchen in der Erzählung selbst nicht auf. Aber sie könnten. Eine Spielerei des Herausgebers Klaus Detjen, gewiss. Doch eine schöne Spielerei, mit erkennbarem Bezug auf den wirklich herausragenden Text von Kiš, der wiederum auf Jorge Luis Borgesʼ Die Bibliothek von Babel verweist und sich auch stilistisch daran orientiert.
”„Allerdings kümmert sich die Enzyklopädie der Toten nicht nur um die materiellen Güter, sie ist kein Werk der doppelten Buchführung, kein Inventar und auch kein Namensverzeichnis wie das Buch der Könige oder die Genesis, wenngleich sie auch das ist; in ihr geht es auch um die Seelenzustände des Menschen, um seine Weltanschauung, seine Anschauung von Gott, um seine Zweifel an der Existenz des Jenseits, um seine moralischen Normen.“
Danilo KišDie Enzyklopädie der Toten
Die Enzyklopädie der Toten – titelgebende Erzählung des letzten Prosabandes von Danilo Kiš aus dem Jahr 1983 – berichtet von einer Reise in die schwedische Hauptstadt Stockholm. Hier wird die namenlose Ich-Erzählerin des Textes in die Königliche Bibliothek geführt, in der sie ein phantastisches Archiv entdeckt. Dieses gibt detailliert Auskunft über all jene Menschen, deren Lebensgeschichte nirgendwo sonst dokumentiert ist, zusammengetragen von einem mysteriösen Geheimbund. Prominente Personen tauchen in dieser Bibliothek der Toten nicht auf – ein egalitär-utopisches Projekt. Im Raum mit dem Buchstaben M stößt die Erzählerin auf einen Band, der weitreichende Informationen über ihren kürzlich verstorbenen Vater bereithält. Ihr Bericht über das Gelesene bildet den Kern der vorliegenden Erzählung, die jedes Menschenleben als einzigartig und einmalig ausweist. Unbedingte Leseempfehlung!