Masha Gessen: Die Zukunft ist Geschichte

Von 21.01. 2020 März 4th, 2020 Bücher
Tino Schlench - Literaturpalast - Masha Gessen - Die Zukunft ist Geschichte

Die Dinge sind, wie sie sind. Über die unmögliche Aufgabe, zentrale Thesen und Inhalte einer 600-seitigen Reportage in knapper Form zusammenzufassen, möchte sich dieser Text gar nicht beklagen. Warum auch lamentieren? Denn Masha Gessens Die Zukunft ist Geschichte. Wie Russland seine Freiheit gewann und verlor (Suhrkamp Verlag, 2018) bietet einen ganz hervorragenden Einblick in die jüngere russische Geschichte. Das vielschichtige Werk, ausgezeichnet mit dem National Book Award, widmet sich den politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Russland, beginnend mit den Jahren der Perestroika. Zu diesen Themenkomplexen mag es zahlreiche Veröffentlichungen geben. Doch der Zugang der russisch-amerikanischen Journalistin und die spezifische Form, die sie für ihre Analyse wählt, unterscheiden sich maßgeblich von anderen Publikationen.

Denn Masha Gessen, die in ihrem Buch von den nicht ergriffenen demokratischen Freiheiten, den Repressionen und Kriegen sowie dem Rückfall ihres Heimatlandes in seine alte Rolle auf globaler Bühne erzählen möchte, tut dies vornehmlich aus der Perspektive von vier jungen Menschen. Ljoscha, Mascha, Serjoscha und Shanna – so die Namen ihrer ProtagonistInnen – haben ihr über den Zeitraum eines Jahres in zahlreichen Gesprächen aus ihrem Leben berichtet. Sie alle wurden Anfang der 1980er Jahre geboren, sind in den 90ern aufgewachsen und zählen demnach zur ersten postsowjetischen Generation. Ihre individuellen Beobachtungen, Gedanken und Erfahrungen, die den Ausgangspunkt für allgemeinere Überlegungen liefern, bewertet Gessen als exemplarisch für die Erfahrungen Millionen anderer Menschen.

Allein, das sind sie nicht. Denn obwohl die vier Personen aus ganz unterschiedlichen Städten, Familien und Lebenswelten stammen, eint sie doch ihre Zugehörigkeit zu einem (links-)liberalen und gebildeten Milieu. Sie verschreiben sich dem investigativen Journalismus, leisten aktiven Widerstand in Vereinen, Organisationen oder auf regierungskritischen Demonstrationen und engagieren sich in der LGBT-Bewegung. Dem Typus des sogenannten „homo sovieticus“ – den (Sowjet-)Nostalgie, Misstrauen, Opportunismus, Obrigkeitsdenken und Passivität auszeichnen und den (nicht nur) Gessen nach wie vor in der russischen Gesellschaft walten sieht – entspricht niemand von ihnen. Somit sind die Perspektiven, die der Text entfaltet, jedoch alles andere als repräsentativ. Es sind Außenseiter-Positionen. Dieser Sachverhalt macht die Argumentation des Buches jedoch nicht zunichte. Ganz im Gegenteil. Denn durch die Devianz ihrer Hauptfiguren gelingt es Gessen umso besser, die Fehler im russischen System kenntlich zu machen. Anschaulich und detailversessen führt sie vor, wie sich Ljoscha, Mascha, Serjoscha und Shanna an Politik und Gesellschaft ihrer Heimat abarbeiten und letztlich daran scheitern.

Es ist gerade der subjektive Zugang, der den Reiz des Buches ausmacht. Denn er ermöglicht eine lebendige Geschichtsschreibung von hoher Literarizität. Masha Gessen, die seit vielen Jahren für den New Yorker arbeitet, versteht es meisterhaft, fachlich fundiert und gleichsam mitreißend zu schreiben. Es ist ihrem erzählerischen Talent geschuldet, dass sich ihr Buch mitunter wie ein spannungsgeladener Roman liest. Dafür riskiert Gessen jedoch, dass Die Zukunft ist Geschichte vielen konservativeren HistorikerInnen zu assoziativ und spekulativ erscheinen wird. Und in der Tat lässt sich die Autorin aus Gründen der Dramaturgie auf einige gewagte Thesen und Vergleiche ein, die ihrer Arbeit nicht immer zugutekommen.

Die geringe Lebenserwartung zum Beispiel, die sich weder durch Armut noch durch Alkoholismus hinreichend erklären lässt, führt sie in Anlehnung an die Anthropologin Michelle Parsons darauf zurück, „dass die Russen früh starben, weil sie nichts hatten, wofür sie hätten leben sollen“. Ein tristes Bild. Insgesamt ließe sich zudem beobachten, dass ein Großteil der russischen Bevölkerung – der sie einen tief verankerten Todestrieb attestiert – keinerlei Begriff von der Zukunft habe. Doch gilt das nicht womöglich auch für andere Gesellschaften? Häufig bietet Gessen keinen Vergleichswert an. Wirklich haarsträubend fällt hingegen ihre Interpretation einer verpfuschten Baumaßnahme in der Moskauer Innenstadt aus. Neue Gehwegplatten auf einem Bürgersteig bildeten bei Frost spiegelglatte Flächen. Die vielen Unfälle, die sich daraus ergaben, kommentiert Gessen wie folgt: „Es war, als wollte das Regime seine eigenen Metaphern beim Wort nehmen und seine Untertanen brechen.“

Überdramatisierungen dieser Art sind eher die Ausnahme als die Regel. Vorhanden sind sie freilich trotzdem. Das ist ein Ärgernis, erweist sich Die Zukunft ist Geschichte doch sonst als ein unbedingt lesenswertes Buch, das dabei hilft, Russlands Aufstieg zur Führungsmacht der antimodernen Welt zu verstehen und aktuelle Ereignisse wie den unerwarteten Rücktritt der Regierung Medwedew in einen historischen Kontext zu setzen.

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