Jemand musste Maria Magdalena Gostomska verleumdet haben, denn ohne dass sie etwas Böses getan hätte, wurde sie eines Tages verhaftet. Auf offener Straße, mitten in der Warschauer Innenstadt. Sie kehrte nicht mehr in ihre Wohnung zurück. Zwar waren die Gründe ihres Fernbleibens ihrem Nachbarn Dr. Adam Korda völlig schleierhaft, doch wusste auch dieser sofort einzuschätzen, dass sich die junge Witwe in polizeilichem Gewahrsam befinden musste. Und so setzte er eine Hilfsaktion in Gang, die schließlich zur Freilassung Gostomskas führte. Letztes Glied in der Kette war der Deutsche Johann Müller, der mit einem „J’adoube“ die Situation zurechtrücken und seinen Parteigenossen Stuckler davon überzeugen konnte, dass es sich bei der Inhaftierten um die Hinterbliebene eines gefallenen polnischen Artillerieoffiziers handelte, nicht aber um die Jüdin Irma Seidenman.
Natürlich hatte Die schöne Frau Seidenman (Diogenes Verlag, 1988), die sich als katholische Offizierswitwe ausgab, nichts Böses getan. Doch das war Anfang der 1940er Jahre völlig irrelevant. Als Jüdin im besetzten Polen befand sie sich in ständiger Gefahr. Wiewohl sie der deutschsprachigen Ausgabe des Romans den Namen verleiht, ist ihre Geschichte beileibe nicht die einzige, von der das geschickt komponierte Werk Andrzej Szczypiorskis (1928-2000) erzählt. Denn das episodenhafte, von zahlreichen Zeitsprüngen und Perspektivwechseln durchdrungene Buch verfolgt die Lebenswege gleich mehrerer Figuren – Lebenswege, die sich trotz ihrer Divergenz in vielfacher Weise begegnen und durch/kreuzen. Daraus ergibt sich ein fein gesponnenes, wenn auch zerrissenes Gewebe, das die Geschichte Polens im 20. Jahrhundert ausbreitet. In dieses Gewebe eingeflochten ist nicht nur der widerständige Kampf des Landes um Freiheit und Unabhängigkeit, sondern ebenso der polnische Nationalismus, Antisemitismus und die Mittäterschaft an der Ermordung der europäischen Juden.
”„Das heilige Polen, das leidende und mannhafte. Das heilige Polentum, das betrunkene, verhurte, käufliche, mit dem Maul voller Phrasen, das antisemitische, antideutsche, antirussische, antimenschliche. Unter dem Bild der Allerheiligsten Jungfrau.“
Andrzej SzczypiorskiDie schöne Frau Seidenman
Diese Kritik – aber auch Szczypiorskis oppositionelles politisches Engagement in den frühen 1980er Jahren – verhinderte eine Veröffentlichung des Romans in der sozialistischen Volksrepublik Polen. Das Buch erschien 1986 zunächst in einem französischen Exilverlag und wurde in der Übersetzung von Klaus Staemmler gerade im deutschsprachigen Raum zu einem großen Erfolg. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs konnte Die schöne Frau Seidenmann dann auch in der Heimat des Autors veröffentlicht werden.
Eine Besonderheit des Romans besteht darin, dass er durch Verweise auf die Solidarność-Bewegung und das Kriegsrecht in Polen in den Jahren 1981-83 wiederholt seine Zeit- und Ortsgebundenheit zu erkennen gibt. Aus dieser Perspektive heraus werden Shoah und Zweiter Weltkrieg in die Geschichte der Gewalt eingeordnet und in ein Verhältnis zu anderen Gräueltaten, Kriegen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit bzw. Menschheit gesetzt. Stichworte wie Napalm, Apartheid und Flugzeugentführungen fallen. Der Zugang birgt die Gefahr, die systematische Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden zu relativieren, was Szczypiorski jedoch gemeinhin zu vermeiden weiß.
Gerade das letzte Kapitel des Romans aber erweist sich als hochgradig problematisch. Denn es wirft einen einseitigen, von Klischees und Ressentiments geprägten Blick auf den Nahost-Konflikt. Die Israelis treten hier ausschließlich als Täter, die palästinensische Bevölkerung einzig als Opfer auf. Geschildert werden militarisierte „seltsame Juden“, die „mit einem einzigen Fußtritt die Türen palästinensischer Häuser aufstießen und dann unter ihren Läufen verstörte Fedayin, ihre Frauen und Kinder in die grelle Wüstensonne hinausführten“. Mehr als einen einzigen Fußtritt benötigt auch Szczypiorski nicht, um seinen eigentlich so schönen Roman mit diesem Schlussakkord zum Einsturz zu bringen.
P.S. „welcher Unsinnigkeit sie beiwohnte“, muss es richtig heißen.
Übrigens ist aus der Kafka imitierende erste Satz falsch: Niemand hatte Frau Seidenman verraten, der Denunziant kannte sie, und er hatte den untrüglichen Blick, Juden zu erkennen.
Lieber Herr Tholen, vielen Dank, dass Sie meine Texte so aufmerksam lesen. Das freut mich. Meine Lektüre liegt allerdings schon so lange zurück, dass ich leider gar nicht recht auf Ihre Anmerkungen eingehen kann. Etwas irritiert bin ich jedoch über ihre klare Unterscheidung in richtig/falsch.
Guten Tag,
Sie haben das letzte Kapitel leider nicht verstanden: Die israelischen Soldaten, die die Tür der Palästinenser eintreten, werden in eine Reihe mit ähnlichen Sodaten der ganzen Welt gestellt. Sie schauen nicht nur „ziemlich dumm und angeberisch“ aus, sondern Miriam ist auch entsetzt, als sie erkennt, „welcher Insnnigkeit sie beiwohnte“. Lesen Sie den drittletzten Absatz in Ruhe noch einmal!