Ein Zimmer für sich allein. Produkt fortlaufender, aber diskontinuierlicher Einschreibprozesse und sozialer Praxis, kein a priori Gegebenes. Unmöglich zu vereinen mit dem Wunsch, einen völlig neutralen Raum zu schaffen, der weder positive noch negative Gefühle auslöst. Das muss auch der Ich-Erzähler in Srdjan Kneževićs Debütroman Das weiße Zimmer (Achse Verlag, 2019) irgendwann erkennen. Kaum zieht er sich zurück in den karg eingerichteten Raum in seiner Wohnung, tritt Musik in seine Ohren, tauchen Bilder auf in seinem Kopf. Das Bemühen, alles um sich herum zu vergessen – die Gesellschaft und Familie in Serbien, die ihn als schwulen Mann ablehnt; die neue Heimat, die ihn als Migranten ausgrenzt; sein eigenes Unvermögen, sich einzugliedern –, dieser Versuch muss zwangsläufig scheitern. Sein vermeintlicher Zufluchtsort wird ihm mehr und mehr zum Gefängnis.
”„Nationale Heterosexualität ist der Mechanismus, mit dessen Hilfe eine nationale Kern-Kultur als ein hygienisch gereinigter, aus sentimentalen Gefühlen und tadellosem Benehmen bestehender Raum imaginiert werden kann, als ein Raum reiner Staatsbürgerschaft.“
Lauren Berlant und Michael WarnerSex in der Öffentlichkeit
Gleichsam ist die Abgeschiedenheit des Zimmers der Ausgangspunkt für die Gedanken, Beobachtungen und Erinnerungen, aus denen sich der Roman zusammensetzt. Die einzelnen Szenen kreisen dabei um die „süße, intime, sexuelle, moralische Migration“ des Erzählers. Bestimmendes Element dessen innerer wie äußerer Unrast ist die Scham, die laut Kosofsky Sedgwick als ein Störungsmoment im Kreislauf der identitätskonstituierenden Kommunikation entsteht.
Gerade das homosexuelle Begehren führt beim Protagonisten zu anhaltenden Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen, die sich in seinen Körper und in seine Gesten eingeschrieben haben. Häufig muss er sich Hände und Gesicht waschen, weil er sich schmutzig und beschmutzt fühlt. Das Wasser, das ihn nicht reinwaschen wird, spielte schon im Moment seiner sexuell-romantischen Initiation im Alter von 15 Jahren eine Rolle. Im Meer, während eines Urlaubs an der Adriaküste, kam es zu ersten Küssen und Berührungen mit einem befreundeten Jungen. Diese Verbindung wurde umgehend von der Familie geahndet.
Die Zerrissenheit des Ich-Erzählers überträgt sich auch auf Sprache und Stil des Romans, der von Mascha Dabić ins österreichische Deutsch übertragen wurde. Kitschige und klischeehafte Phrasen haben darin genauso einen Platz wie überraschend unkonventionelle Bilder und Metaphern, die dem Text eine ganz eigene Qualität verleihen. Den Vorwurf mangelnden Formbewusstseins wird er sich dennoch gefallen lassen müssen. Das weiße Zimmer ist auf Sand gebaut.
Postskriptum
Das Buchphoto zu diesem Beitrag ist in Kooperation mit dem in Wien lebenden Künstler Mario Kiesenhofer entstanden. Es zeigt einen Teil seines Werks INDOOR – BOILER, BERLIN, 2016 aus der fortlaufenden Serie INDOOR. Die Serie, für die er internationale Metropolen bereist, ist eine Auseinandersetzung mit queeren Räumen wie Gay Bars, Saunen und Clubs. Weitere Arbeiten von Mario Kiesenhofer finden sich auf Instagram @mario_kies und auf seiner Webseite www.mariokiesenhofer.com
Im Text zitiert/paraphrasiert werden zwei Aufsätze aus folgendem Sammelband: Haase, M., Siegel, M, & Wünsch M. (Hrsg.). (2005). Outside. Die Politik queerer Räume. Berlin: b_books.