Danilo Kiš: Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch

Von 17.08. 2020 September 4th, 2020 Bücher

„Die folgende Geschichte, aus Zweifel und Ratlosigkeit entstanden, ist zu ihrem Unglück (andere nennen es Glück) wahr: sie wurde aufgezeichnet von Hand ehrlicher Menschen und zuverlässiger Zeugen.“

Danilo KišEin Grabmal für Boris Dawidowitsch

Als der Prosaband Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch. Sieben Kapitel ein und derselben Geschichte im Jahr 1976 erschien, löste er einen der größten Literaturskandale Jugoslawiens aus. Seinem Autor Danilo Kiš (1935-1989) wurde in scharfem Ton vorgeworfen, ein Gewebe aus Plagiaten vorgelegt zu haben, das sich bei zahlreichen bekannten Autor*innen bediene – darunter so bekannte Namen wie Karlo Štajner, Alexander Solschenizyn, Nadeschda Mandelstam oder James Joyce. Die Debatte zog sich über mehrere Monate und führte dazu, dass sich Kiš in seinem Folgewerk – der poetologischen Streitschrift Anatomiestunde aus dem Jahr 1978 – mit den Anschuldigungen auseinandersetzte und seine literarische Methode offenlegte.

Besonders hart in der Kritik stand nach Veröffentlichung von Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch dessen Erzählung Hunde und Bücher, die als einziger Text der Sammlung nicht im 20. Jahrhundert angesiedelt ist, sondern ein antijüdisches Pogrom im 14. Jahrhundert in Frankreich aufgreift. Der Erzählung ist eine kurze Anmerkung beigefügt, in der dargelegt wird, dass die Geschichte von Baruch David Neumann vom Autor/Erzähler zufällig entdeckt und der Originaltext – dessen Handschrift in der Vatikanischen Bibliothek aufbewahrt wird – nur marginal verändert wurde. Aufgrund der vielen Analogien und Parallelen zur Boris Dawidowitsch Erzählung – bewertet als „göttlicher Eingriff“ oder „Machination des Teufels“ – fand der unverhoffte Archivfund Eingang in den Prosaband:

„Die Beständigkeit der moralischen Überzeugungen, das Vergießen unschuldigen Opferbluts, die Ähnlichkeit der Namen (Boris Dawidowitsch Nowskij – Baruch David Neumann), die zeitliche Koinzidenz zwischen der Verhaftung Nowskijs und derjenigen Neumanns […], all dies kam mir plötzlich vor wie eine entwickelte Metapher der klassischen Doktrin vom zyklischen Kreislauf der Zeiten.“

Danilo KišEin Grabmal für Boris Dawidowitsch

Die von konservativen Stalinisten und Nationalisten vorgebrachten „literarischen“ Argumente gegen das Buch waren freilich nur ein Vorwand. Denn tatsächlich war die antisemitisch grundierte Hetzkampagne gegen den erfolgreichen Autor Danilo Kiš, dessen jüdischer Vater in Auschwitz ermordet wurde, politisch motiviert. Sein literarisches Porträt der stalinistischen Ideologie und ihrer Träger wurde „von letzteren als Versuch gewertet, ihre Reinheit zu kompromittieren, sie festzunageln und um ihre Zukunft zu bringen“, so Joseph Brodsky. Die Skandalisierung des Werkes hatte aber auch zur Folge, dass Kiš nun internationale Aufmerksamkeit zuteil wurde. Seine Bücher wurden fortan in andere Sprachen übersetzt und etablierten ihn als bedeutenden europäischen Schriftsteller und Nobelpreisaspiranten.

Das Grabmal, aus dem Serbokroatischen ins Deutsche übertragen von Ilma Rakusa, ist eine Sammlung fiktiver Historien, die sich so oder anders im blutigen 20. Jahrhundert zugetragen haben könnten. Eine Ausnahme bilden die bereits genannten Hunde und Bücher. Die sechs anderen Erzählungen des Bandes schildern jeweils die Biographie eines Revolutionärs, der seiner eigenen Gesinnung und der Selbstzerstörung der Komintern zum Opfer fällt und letztlich im Sinne einer „höheren Gerechtigkeit“ bestraft wird.

„Auch der Stein wird reden, wenn man ihm die Zähne herausschlägt.“

Danilo KišEin Grabmal für Boris Dawidowitsch

Fast alle Figuren verlieren ihr Leben während des Großen Terrors der späten dreißiger Jahre: durch Folter, Lagerhaft, Mord oder Selbstmord. Ihre Biographien verwischen zusehends und werden in gewisser Weise austauschbar, da ihre individuellen Züge durch das Lager, den großen Gleichmacher, nach und nach ausgelöscht werden. Dass das Buch auch heute noch relevant und lesenswert ist, hat vielleicht weniger mit dem politischen Gehalt der Erzählungen zu tun, als vielmehr mit der stilistischen Brillanz und dem grotesken Humor dieser Prosa. Den Texten des Bandes ist deutlich anzumerken, dass sich Kiš selbst als „Kind“ von Jorge Luis Borges und Bruno Schulz betrachtete. Dennoch haftet seiner verdichteten und anspielungsreichen Prosa nichts Epigonales an. Tatsächlich findet man wenig Vergleichbares.

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