Witold Gombrowicz: Ferdydurke

Von 10.11. 2020 Bücher

„[E]s ist ein irriges Postulat, daß der Mensch fest sei und bestimmt, also unerschütterlich in seinen Ideen, kategorisch in seinen Behauptungen, von Zweifeln frei in seiner Ideologie, entschieden in seinem Geschmack, verantwortlich für seine Worte und Taten, ein für allemal festgelegt in seiner ganzen Daseinsart. […] Unser Lebenselement ist die ewige Unreife.“

Witold GombrowiczFerdydurke

Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen. Manchmal, die Kerze war kaum gelöscht, fielen mir die Augen so rasch zu, dass keine mehr Zeit blieb, um in den Himmel zu blicken und den leuchtenden Popo am Firmament zu bestaunen. Ein Popo von riesigen Ausmaßen, der in klaren Nächten seine Bahnen zog und seine milchblasse Fresse gen Erde neigte. Nicht einmal im Schlaf konnte ich mich in Sicherheit wiegen, denn vor dem Popo gab es keine Flucht. Über kurz oder lang würde er mich übermannen, verkleinern und in eine Form pressen, die ich verabscheute. Über kurz oder lang wäre ich, Józio Kowalski: im Arsch.

Ich verkehrte in den Cafés und Bars der Stadt Warschau und hatte vor einiger Zeit das Buch Tagebuch aus der Epoche der Reifung veröffentlicht. Der Band sollte mein Können herausstellen und mich in die Gesellschaft einführen, scheiterte aber an den Kulturtanten und Halbkritikern, die mir meine Unbestimmtheit und Grünschnäbeligkeit zum Vorwurf machten. Allein: Meine schweinische Wollust und Rotzhaftigkeit waren meine einzige kulturelle Institution. Und so machte ich mich daran, ein Werk zu schaffen, das mit mir identisch sei. Ich wollte einen Roman schreiben, der verkommenden Werten wie Wahrheit, Güte und Schönheit den blanken Hintern zeigt. Der Nonsense-Begriff Ferdydurke schien mir für meine Groteske der geeignete Titel.

[Geeigneter Einschub: Ferdydurke ist der Debütroman des polnischen Schriftstellers Witold Gombrowicz. Die erste Ausgabe des Buches – mit einer Umschlagzeichnung von Bruno Schulz – erschien im Oktober 1937; eine zweite, veränderte Version folgte im Jahr 1956. Die deutsche Übersetzung des Romans aus dem Jahr 1960 besorgte Walter Tiel; sie wurde für die Gesamtausgabe im Hanser Verlag (1983) von Rolf und Hilde Fieguth revidiert. Aber eine Jahreszahl geht noch: Denn vor seinem Debütroman veröffentlichte Gombrowicz im Jahr 1933 den Erzählband Tagebuch aus der Epoche der Reifung. (Nicht nur) Indem er diesen Band seinem Protagonisten Józio Kowalski zuschreibt, markiert er die Figur als sein Alter Ego und weist seine Satire als autobiographisch aus. Dieser (Anti-)Roman richtet sich radikal gegen sämtliche politische, gesellschaftliche und ästhetische Normen. Diesen Zwängen setzt das Buch die Unreife entgegen, verstanden als Wahnsinn, Absurdität oder Queerness.]

Doch dann kam alles anders. Denn mein Kampf um wahre Individualität wurde jäh vom Dämon der Form und Manipulation zunichte gemacht, der in Gestalt des biederen Schulmeisters Pimko auf mich zutrat. Der schwachsinnige Pauker ergriff von mir Besitz, nahm mir jeglichen Widerstand und schickte mein Popöchen zurück auf die Schulbank. Und so befand ich mich alsbald in dieser Blödmaschine und war mit meinen dreißig Jahren wieder zum Kind geworden. Eine zynische Farce, die nur ich selbst zu durchschauen wagte. Angestachelt vom machiavellistischen Pimko gaben sich meine Mitschüler (und der ganze dreckige Rest) einem kruden Wettkampf aus Minen und Posen hin: Don’t just stand there, let’s get to it. Strike a pose, there’s nothing to it. Doch waren die manierierten Pennäler alles andere als woke.

Das mich umgebende Minenspiel hatte recht wenig mit Selbstermächtigung zu tun, sondern endete vielmehr im Gesichtsverlust. Im doppelten Wortsinn und für alle Beteiligten. Denn als Gesichter ließen sich die Fratzen und Fressen meiner Mitschüler nun nicht mehr bezeichnen. Sie waren zu Masken verzerrt, alles Persönliche aus ihnen gewichen. Passend zu einer Epoche, die sich alle fünf Minuten zu neuen Parolen und Grimassen entschließt und ihr Antlitz krampfhaft verzerrt, so sehr sie nur kann. Folgerichtig war auch der Wunsch meiner Mitinsassen nach Flucht und Freiheit längst gebrochen. Die Jugend wollte ihren Arsch gar nicht retten. Doch wie würde ich selbst hier rauskommen? Es musste doch eine Hintertür geben!

„Das Verlangen, von dem sein Roman handelt und für das er eintritt, läuft nicht darauf hinaus, faustisch die ruhmreichen Tage der Jugend wiederzuerleben. Was dem Dreißigjährigen widerfährt, der eines Morgens, überzeugt von der Nichtigkeit seines Lebens und all seiner Projekte, erwacht, von einem Lehrer entführt und in die Welt unreifer Schulbuben zurückversetzt wird, ist eine Demütigung, ein Sturz.“

Susan SontagGombrowiczʼ Ferdydurke

[Einschub zur visuellen Gestaltung: Die Photos für diesen Beitrag entstanden in Kooperation mit dem in Berlin lebenden chinesischen Künstler Li Chao. Verwendung fanden Werke aus der Serie Vater aller Dinge, die im Okt/Nov 2020 im Berliner Club der polnischen Versager zu sehen waren. Zentraler Aspekt dieser Arbeiten ist das Material, auf das der 1995 geborene Konzept-Künstler zurückgreift: entsorgter Industrie-/IT-Schrott und profane Gebrauchsstoffe wie Karton, Stein und Plastiktüten, gefüllt mit Asche und Wasser. So wie auch Gombrowicz interessiert sich Chao für „bestimmte Neben- und Abfallprodukte kultureller Prozesse, eine Zone subkultureller unausgeformter und rudimentärer Inhalte“, für einen riesigen „Schuttplatz, der die Randgebiete der Kultur verunreinigt“ (Bruno Schulz). Von besonderem Interesse für die Zusammenarbeit war die Installation Mein Gesicht, die mittels Alufolie interaktiv Spiegelungen der Betrachter*innen generiert und in gewisser Weise das Masken-Thema des Romans aufgreift.]

Womöglich gab es gar keine Hintertür. Doch die Wände des Schulgebäudes waren porös, der den Hof umgebende Holzzaun morsch. Irgendwie ließe es sich entkommen. Bestimmt. Und während ich sinnierte, fügte ich ein paar Erzählungen in meine Geschichte ein, ein paar vulgärphilosophische Exkurse zudem, zum Schluss noch eine kulturpessimistische Tirade samt Aufruf zur ästhetischen Revolte. Einzig und allein in der Absicht, den Platz auf dem Papier ein wenig auszufüllen und so die Unzahl weißer Blätter vor mir etwas zu vermindern. So würde ich mein Projekt des Demaskierens und Bloßstellens (auch meiner selbst) weiter voranbringen.

Doch dann kam alles anders. Der altmodische Pimko entführte mich zu den modernen Jungmanns, sesshaft in einer modernen Stadtwohnung, beschenkt mit einer modernen Tochter (Oberschülerin, Lolita). Ich sollte den Jungmanns fortan ein folgsamer junger Untermieter sein, mich nach der jungen Tochter verzehren und Dancing, Kajak und Amerika zu meinem Lebensinhalt machen, auf dass mir das Erwachsensein verginge. In mir garte jedoch die Gewissheit, dass ich mich nur mittels einer Intrige würde befreien können: Pimko (und dem ganzen dreckigen Rest) gehörte gehörig die Fresse poliert.

Meine Fresse! Und so kam es dann auch. Vielleicht. Also sehr wahrscheinlich. Womöglich ahnen Sie es aber längst, geschätzte Leserin und gnädiger Leser: Obwohl ich kein Ende finde, kann ich Ihnen hier unmöglich die ganze Geschichte erzählen. Schon jetzt verstricke mich in wiederholenden Wortwiederholungen und affigen Alliterationen. Und Sie lauern doch schon wie die Aasgeier, um mir da einen Strick draus zu drehen! Nicht? Oh doch! Fühlen Sie sich bitte ertappt.

„Schluß und Punktum! Wer es las, der ist dumm!“ W. G.

Witold GombrowiczFerdydurke

[Biographischer Anhang: Witold Gombrowicz (1904-1969) galt bereits zu Lebzeiten als einer der bedeutendsten Schriftsteller Polens, war jedoch zu keinem Zeitpunkt unumstritten. Schon in jungen Jahren machte er als avantgardistischer Schriftsteller von Erzählungen, Romanen und Theaterstücken auf sich aufmerksam. Im Sommer 1939 unternahm er eine Schiffsreise nach Buenos Aires und kehrte aufgrund des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs nicht wieder nach Europa zurück. Er lebte insgesamt 24 Jahre in Argentinien, ab 1963 dann in Frankreich. Als Hauptwerk des großen Egomanen gilt sein dreibändiges Tagebuch (1953-1969), das seinen Weltruhm begründete. Obwohl es ihn nie wieder in seine Heimat zog, setzte sich der linke, bisexuelle und antiklerikale Autor Zeit seines Lebens mit der polnischen Kultur auseinander, engagierte sich für Individualität und Freiheit und wetterte mit besonderer Streitlust gegen den Kollektivismus und Nationalismus in Polen. Nicht ohne Konsequenzen: In der Volksrepublik durften seine Werke über einen langen Zeitraum nicht erscheinen. Das Publikationsverbot wurde erst im Jahr 1986 aufgehoben.]

[Kontextualisierender Ausklang: Die Auseinandersetzung mit Ferdydurke von Witold Gombrowicz ist Teil einer Gemeinschaftsaktion mehrerer Literaturblogger*innen, die zeitgleich einen Beitrag zu diesem Roman veröffentlicht haben. Die Beschäftigung mit diesem queeren Klassiker reagiert auch auf die nationalistischen, frauenfeindlichen und LGBTIQ-feindlichen Entwicklungen in Polen. Unter dem Vorwurf der „Propagierung von Päderastie“ forderte die Liga polnischer Familien bereits vor über zehn Jahren die Verbannung des Autors von den Lehrplänen. Dieser Forderung gab die rechts-konservative PiS-Regierung im Jahr 2018 nach. Weitere Beiträge zum Buch finden sich auf den Blogs Booksaregayasfuck und Lectorinfabula sowie auf den Instagram-Accounts @alexlessordinary, @fadenbuecher und @frau_fabel.]

2 Comments

  • Sehr geehrte Damen & Herren!
    Danke für die originelle Buch & samt Autorenbesprechung. Anfang der 70 er habe ich das Werk gelesen. Aus gegebenem Anlass brauchte ich einen kleinen Überblick. Etwas was mein chaotisches Leseerlebnis einordnet „Pimko“ sei dank.
    Auch ich danke Joseph Wutschel a. A.

  • Gerald Rauscher sagt:

    Dankbar für diesen Text … urlaube gerade am Ort von WMGs Ableben … was für ein großer Schriftsteller!

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