Karl-Markus Gauß: Schiff aus Stein

Von 10.11. 2024 Bücher

Ihm musste ein Fehler unterlaufen sein. Wie das möglich war, konnte er sich nicht erklären. Zwar beschäftigte er sich schon seit über sechs Jahren stümperleidenschaftlich mit den Literaturen Mittel- und Osteuropas, hatte aber noch nie ein Buch von Karl-Markus Gauß vorgestellt. Dabei war der 1954 in Salzburg geborene Autor einer derjenigen Instanzen (der Begriff scheint ihm hier angebracht), die sein Interesse für diesen auf keinen gemeinsamen Nenner zu bringenden Kultur- und Sprachraum überhaupt erst geweckt hatten. Aber so ein Versäumnis lässt sich ja beheben, redete sich selbst gut zu. Dann setzte die Erinnerung ein und er schwankte ein paar Jahre zurück.

Mit Anfang 20 war er Erasmus-Student in Wien. Dafür musste er sich damals immer wieder rechtfertigen, galt doch Österreich den meisten seiner Freunde nicht als „richtiges“ Ausland, war Deutschland zu nah. Bereut hat er die Wahl seines Studienortes aber nie. Bevor er die Stadt verließ – um dann neun Jahre später wieder dorthin zurückzukehren – absolvierte er ein Praktikum im Zsolnay Verlag. Es gab nicht viel zu tun. Seine Zeit im Verlag fiel in die Sommerferien, die Mitarbeiter:innen waren reihum im Urlaub. Neben ausstehender Seminararbeiten blieb viel Zeit zum Lesen.

Einige Namen im Zsolnay-Programm kannte er, von Karl-Markus Gauß hatte er vorab nie gehört. Aber was heißt das schon, dachte er unbekümmert und las mit großer Begeisterung gleich drei Bücher des Essayisten und Kritikers hintereinander. Er begann mit Die Hundeesser von Svinia (2004), denn das hatte den aufregendsten Titel. Ein Text über eine Ortschaft im Osten der Slowakei, in dem vor allem Roma leben. Dann las er sich durch Die versprengten Deutschen (2005) über deutsche Gemeinschaften in der Slowakei, Litauen und der Ukraine. Zuletzt griff er zum Buch Die sterbenden Europäer (2001), das sich mit verschwindend kleinen Völkern und Minderheiten in Europa auseinandersetzt, darunter die Sepharden Sarajevos und die Aromunen Mazedoniens.

„ist es doch ein zentrales Dogma meiner Lebensreligion, dass es keinen Ort gibt, der es nicht wert wäre, durchwandert und erkundet zu werden, weil ein jeder sein Geheimnis und seine Geschichte hat“

Karl-Markus GaußSchiff aus Stein

Will er seine damaligen Lektüreeindrücke in Worte fassen, verheddert er sich unbedarft in plumpe Klischees und Worthülsen. Was kommt ihm in den Sinn? Karl-Markus Gauß – von seinem Verlag als „Chronist des randständigen Europas“ bezeichnet (der Begriff scheint ihm hier angebracht) – habe ihm die Augen geöffnet, ihn unbekannte Dinge sehen lassen, ihm ein ganz neues Bild Europas vermittelt, seine Aufmerksamkeit für scheinbar Nebensächliches und Abseitiges geschärft. Das mag reichlich abgeschmackt klingen, denkt er sich, will aber dennoch darauf beharren. Banale Empfindungen müssen nicht falsch sein.

Gauß ist ein emsiger Leser, Beobachter und produktiver Autor, verfasst regelmäßig Artikel, Rezensionen und Nachworte, engagiert sich für teils (noch) unbekannte Schriftstellerinnen und Schriftsteller, insbesondere aus dem südosteuropäischen Raum. Den bereits genannten Titeln folgten über die Jahre zahlreiche Essays, Reisereportagen und Journale in Buchform. Jede dieser Veröffentlichungen ist lesenswert, betont der ehemalige Praktikant und geht mit dieser Behauptung nun wirklich kein Risiko ein.

Da er Klappentexte stets Klappentexte sein lässt und diese im Regenfall ignoriert, hat ihn das aktuelle Buch von KMG zunächst ein wenig verwundert. Anders als die meisten anderen Publikationen des Autors verfolgt Schiff aus Stein. Orte und Träume (Zsolnay Verlag, 2024) keine Agenda und kein Thema im engeren Sinne. Bei den vielen kleinen Texten, die der Band versammelt, handelt es sich viel mehr um lose miteinander verbundene Miniaturen. Zufällige Begegnungen, Gedankengänge und -spiele, Skizzen und Versuche, poetologische Betrachtungen, Anekdoten, Träume und Erkundungen, zumeist auf Reisen gesammelt, die Gauß in ganz unterschiedliche Länder und Regionen führten.

„Jeder Friedhof ist anders, aber alle erzählen sie vom Leben. Das haben sie mit Romanen gemeinsam, von denen auch jeder anders erzählt wird und auf seine eigene Weise von Lebensgeschichten und Schicksalen handelt.“

Karl-Markus GaußSchiff aus Stein

Das Buch beginnt mit einer Anekdote über zwei lange (und daher wunderschöne) Nasen, erspäht in der Berliner S-Bahn, und endet mit einer Nahtoderfahrung des Autors im polnischen Poznań beim Erleiden eines Lagerungsschwindels. Tatsächlich sind es bei all der Themenfülle vorrangig Tod und Vergänglichkeit, die viele Texte des Bandes durchziehen. Gauß erinnert sich an verstorbene Autor:innen, Freund:innen und Familienmitglieder, besucht Museen und Friedhöfe in aller Herren Länder. Bereits das titelgebende Schiff aus Stein, das Gauß an einer Küste in Albanien entdeckt, ist nicht nur ein Hotel auf einem Hügel, sondern ebenso ein Denkmal oder Grabstein, drei Brüdern errichtet, die in den 90er Jahren das Land verlassen wollten und in der Adria umkamen.

Es sind persönliche, stilistisch ausgefeilte Texte über das Lesen und Schreiben und somit auch über das Leben. Einige dieser Texte hätte sich unser Leser (Sie können ihn Tino Schlench nennen, müssen aber nicht. Wirklich nicht.) etwas umfangreicher gewünscht. Sie öffnen die Tür nur einen Spaltbreit, schließen sie dann wieder sachte zu. Doch vielleicht ist es genau das. Einen Eindruck vermitteln, Interesse wecken, Offenheit schulen, das Denken befreien.

Ein Ziel seiner Arbeit schildert Gauß in seinem Buch selbst. In einer Miniatur mit dem Titel Das Geheimnis wahrer Größe berichtet er von einer Begegnung mit dem Schriftsteller K., in dem unschwer der ungarische Autor László Krasznahorkai zu erkennen ist. Im Gegensatz zu K., der einen anderen Ansatz verfolge, treibe es ihn immer wieder dazu „das scheinbar wie für ewig festgefügte Bild eines Ortes, einer Gesellschaft wieder in seinen historischen Zusammenhängen zu zeigen, kurz: ihm die Geschichte und Geschichtswürdigkeit zurückzuerstatten.“

Er liest diese Zeilen mit Blick auf die Ostsee, an einem spärlich besuchten Strand der polnischen Halbinsel Hel, einst militärisches Sperrgebiet. Bevor er sich ins Wasser traut, macht er ein Photo vom Schiff aus Stein zwischen Sand und Himmel. Es ist ein schönes Buch, ein helles Buch, denkt er bei sich, während das Meer im Hintergrund rauscht.

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