Radmila Petrović: Meine Mama weiß, was in den Städten vor sich geht

Von 20.11. 2024 Bücher

Ich bin spät zur Lyrik gekommen. Bis auf das Interpretieren, Auswendiglernen und Vortragen in der Schule spielten Gedichte in meiner Kindheit und Jugend kaum eine Rolle. Ich mochte die Auseinandersetzung mit den Texten, das Bestimmen von Metrum und Reimschema, das Aufstöbern von Metaphern und Anspielungen (ja, so etwas passiert). Aber abseits vom Deutschunterricht interessierte mich das kein bisschen. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, mir aus freien Stücken einen Lyrikband zu besorgen, um mich darin zu vertiefen. Diese Haltung scheint mir weit verbreitet.

An meiner Ignoranz hat sich auch während meines Literaturstudiums wenig geändert. Es war schrecklich einfach, das Thema zu umschiffen. Natürlich tauchte Lyrik in den Einführungsveranstaltungen auf, doch im späteren Verlauf des Studiums boten sich nur wenige Gelegenheiten, sich damit zu beschäftigen. Das war mir ganz recht. Irgendwann verirrte ich mich aber dennoch in ein Seminar mit dem Titel „Der Garten in der Dichtung des Barock“. Das klang wenigstens schön abwegig. Einen Pflanzen- oder Gedichte-Liebhaber hat es trotzdem nicht aus mir gemacht.

Wann sich mein Verhältnis zur Lyrik verändert hat, weiß ich nicht genau zu sagen. Es ist ja ohnehin kein abgeschlossener Prozess. Ich kenne mittlerweile einiges, das meiste nicht. Wie das eben so ist. Und wie das eben so ist, begann ich irgendwann, verstärkt auf Lesungen zu gehen. In Wien kann man das gut. Von Interesse für mich waren dabei nicht nur etablierte Autor:innen, sondern ebenso weniger bekannte Namen. Dadurch hat es sich ergeben, dass ich nicht nur mit Prosa, sondern auch mit Lyrik konfrontiert wurde. Immer wieder. Sie kam zu mir, ohne dass ich das beabsichtigt hätte. Und blieb. Ein Fall von Serendipität, wenn man so will. Und ich wollte.

Natürlich gefallen mir auch Lesungen aus Prosatexten, vor allem die Gespräche davor oder danach oder mittendrin. Lieber jedoch sind mit mittlerweile Lyrik-Veranstaltungen. Sie haben eine ganz eigene Qualität. Vortrag und Setting verändern den Text, das Gefüge, öffnen einen Raum. Das schaffe ich allein beim stillen Lesen nicht (lese ich Gedichte, lese ich sie oft jemandem vor, aber das muss ja nicht verraten werden). Ganz intuitiv modifizieren-erschüttern-kippen Lesungen das eigene Verständnis und Geschmacksurteil, so bilde ich mir ein. Weil es schön wäre.

Auch Radmila Petrović habe ich durch eine Veranstaltung kennengelernt. Die serbische Autorin hatte im Winter des Jahres 2022 eine Residency im Museumsquartier Wien und verbrachte zwei Monate in der Stadt. Ein solcher Schreibaufenthalt ist im Regelfall mit ein, zwei Lesungen verbunden, oft im Literaturhaus oder im MQ selbst. Petrovićs Lesung fand jedoch an einem anderen Ort statt, und zwar in einem ordentlich abgerockten Gürtellokal – in einer dunklen Kaschemme, in der bis dato vermutlich nie eine Lyrikerin gelesen hatte.

Die Veranstaltung im Lokal Lepa Brena war sehr gut besucht, zog vor allem ein junges, weibliches Publikum an. Ich spreche kein Serbokroatisch/BKMS und gehörte damit zu den wenigen Personen im Raum, die auf die Übersetzerin und Dolmetscherin Mascha Dabić angewiesen waren, die durch den Abend führte. Von Anfang an hatte Petrović ihr Publikum völlig in der Hand. Die Stimmung war ausgelassen, vor und während der Gedichte (zunächst im serbischen Original, im Anschluss in deutscher Übersetzung von Dabić) gab es Zwischenrufe, Applaus und Jubel. Ich fühlte mich ein wenig wie auf einem Popkonzert, nicht nur weil Petrović am Ende einen jugoslawischen Schlager sang.

Die feministischen, sozialkritischen Texte der Autorin trafen einen Nerv, wirkten unmittelbar. Die in freier Form geschriebenen Gedichte erzähl(t)en vom Aufwachsen auf dem Land, dem meist schwierigen Verhältnis zu den Eltern, starren Geschlechternormen, ausgedienten Erwartungen, Sexismus und Nationalismus nicht nur in der serbischen Gesellschaft. Einige Besucher:innen kannten den damals aktuellen Lyrikband der Autorin vermutlich bereits. Moja mama zna šta se dešava u gradovima, veröffentlicht im Jahr 2020, hat sich im ex-jugoslawischen Raum über 7000mal verkauft. Ein fantastischer Erfolg.

Ich hatte so etwas noch nicht erlebt und war einigermaßen fasziniert. Petrovićs Charisma und die Strahlkraft ihrer Texte, die euphorische Stimmung, das sonderbar schöne Gemeinschaftsgefühl zwischen Bierflaschen und Sperrholzmöbeln. Ließe sich das übertragen? Würden diese Texte auch auf Deutsch funktionieren, ein deutschsprachiges Publikum mit einem anderen Hintergrund und anderen Erfahrungen ebenso ansprechen und begeistern? Ich war mir nicht sicher (und bin es mir auch heute nicht, dazu bin ich zu befangen), wollte aber unbedingt daran glauben.

Damals arbeitete ich für den Wiener Indie-Verlag TEXT/RAHMEN und hatte für einen kleinen Moment das große Glück, Programmentscheidungen treffen zu dürfen, Bücher zu machen und Übersetzungen zu ermöglichen. Da die Rechte für den deutschsprachigen Raum noch nicht vergeben waren, hoffte ich, Petrovićs Lyrikband in „meinem“ Verlag unterbringen zu können. Mascha Dabić als Übersetzerin lag auf der Hand, auch für das Lektorat und Nachwort hatte ich eine konkrete Idee. Ich machte der Autorin also ein Angebot … das sie ablehnte.

Meine Mama weiß, was in den Städten los ist (so der Arbeitstitel von Mascha Dabić, den ich übernommen hätte) erschien im Frühjahr 2023 letztlich als zweisprachige Ausgabe im Verlag Voland & Quist unter dem Titel Meine Mama weiß, was in den Städten vor sich geht, übersetzt von Philine Bickhardt und Denijen Pauljević (in meinem Podcast mit dem Verleger Leif Greinus rede ich kurz über das Buch – das Gespräch findet sich hier). Radmila Petrović hat damit ganz klar die richtige Entscheidung getroffen. Nicht nur ist V&Q ein hervorragender Verlag; meine eigenen Mittel hinsichtlich Marketing und Vertrieb wären beim kleinen Wiener Indie einfach sehr überschaubar gewesen.

Aufgrund dieser Vorgeschichte blicke ich natürlich ein wenig anders auf das Buch als es die meisten „gewöhnlichen“ Leser:innen tun werden (gleichzeitig nutze ich diesen Umstand als Ausrede dafür, die einzelnen Texte unmöglich auseinanderzunehmen zu können – meine Geschichte mit diesem Lyrikband ist schließlich eine andere und es ist diese andere Geschichte, die ich hier erzählen möchte). Viele Gedichte kannte ich bereits vorab, wenn auch in einer anderen, unlektorierten Übersetzung. Nun liegen sämtliche Texte in der gelungenen Übersetzung von Bickhardt und Pauljević vor.

Der Band ist stimmig, gut komponiert, wie aus einem Guss. Die Texte gehen aufeinander ein, greifen Themen wiederholt auf, kommunizieren miteinander. Ein Traktor rattert sowohl durch das erste als auch das letzte Gedicht. Am Steuer ein Mädchen, das von klassischen Zuschreibungen und Konventionen wenig wissen will und sich an Ungerechtigkeiten und Widersprüchen reibt. Es sind queere, leidenschaftliche und rebellische Texte gegen und in direkter Auseinandersetzung mit der Obrigkeit (häufig Vater und/oder Mutter). Eine bittere Abrechnung mit einer beengenden Heimat sehe ich jedoch nicht darin. Zu gewitzt der Ton, zu stark die Bindung an das Elternhaus. Die in den Gedichten auftretende Tochter mag Mutter und Vater widersprechen – aber sie redet mit ihnen, sucht das Gespräch, hält am Miteinander fest.

Was die verlegerische Umsetzung und Gestaltung des Bandes anbelangt, hat sich Voland & Quist einiges einfallen lassen. Das Cover von Meine Mama weiß, was in den Städten vor sich geht möchte vor allem eines: auffallen. Die grellen Neon-Farben wirken frisch und jugendlich, springen direkt ins Auge und sind für einen Lyrikband wohl eher ungewöhnlich; hier aber nicht verkehrt, wie ich finde. Dass der sich abzeichnende Hügel oder Berg, auf dem Bäume und menschliche Figuren platziert sind, aus einem weiblichen Körper geformt ist, mag zunächst ein wenig irritieren. Manch eine/r wird darin eine plumpe Männerphantasie erkennen. Doch bereits die serbische Originalausgabe arbeitete (ein ganzes Stück weniger subtil) mit einem nackten Frauenkörper, die Autorin wird das Motiv also abgesegnet haben.

Prominent auf dem Cover vermerkt ist zudem der Hinweis, dass die ehemalige Tennisspielerin und heutige Schriftstellerin Andrea Petković für ein Vorwort gewonnen werden konnte. Die Strategie dahinter ist offensichtlich: Interesse wecken und mit einem bekannten Namen für ein Buch werben, das viele potentielle Leser:innen sonst gar nicht zur Kenntnis nehmen würden. Warum also nicht? Petrovićs Texte sind zugänglich und im Hier und Jetzt verortet. Bereits die Titel der Gedichte sind so schmissig sloganhaft, dass sie auch in einen Pop-Song nicht auffallen würden (mein Favorit: Ich bin Serbin, aber nicht der Kosovo ist in meinem Herzen, sondern du). Ihnen wohnt das Potential inne, auch ein Publikum anzusprechen, das sich für gewöhnlich wenig für Lyrik interessiert.

Dieser Gedanke treibt auch Andrea Petković in ihrem Vorwort um. Ihr kurzer Beitrag ist nicht unsympathisch, insgesamt aber eher überflüssig, da er zu wenig Kontext liefert. Darüber hinaus empfinde ich das wiederholte Insistieren darauf, „nichts von Poesie zu verstehen“, als einigermaßen abgedroschen und ermüdend (auch wenn es Petković als Argument dafür dient, trotz dieser ungünstigen Voraussetzungen ganz eingenommen von den Gedichten der serbischen Autorin zu sein). Und das mag so gar nicht zur aufgeweckten und gegenwärtigen Lyrik von Radmila Petrović passen. Doch das sind Kleinigkeiten, der Band Meine Mama weiß, was in den Städten vor sich geht dessen ungeachtet eine tolle Entdeckung.

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