Herta Müller: Heute wär ich mir lieber nicht begegnet

Von 25.03. 2019 März 4th, 2020 Bücher
Tino Schlench - Literaturpalast - Nichtbegegnet1

Alles was ist, dauert drei Sekunden. Eine Sekunde für vorher, eine für nachher, eine für mittendrin. Da wo die Tram eine Schneise schlägt, wo die Stationen den Bewusstseinsstrom ihrer Passagierin stunden. Eine im Rhythmus der Straßenbahn getaktete Momentaufnahme.

Die namenlose Ich-Erzählerin in Herta Müllers Roman Heute wär ich mir lieber nicht begegnet (Rowohlt Verlag, 1997) ist bestellt. Einbestellt zum Verhör an einem Donnerstag Morgen. Major Albu von der rumänischen Geheimpolizei erwartet sie um Punkt zehn. Was sie dort selbst erwartet, wer weiß das schon. Das Schlafen hat sie verlernt, aus Angst vor einer Inhaftierung hat sie vorsorglich Handtuch und Zahnbürste im Gepäck. Es ist nicht das erste Treffen mit der Securitate, seitdem sie von einem Kollegen in der Textilfabrik denunziert wurde. Einziger Grund: Unerwiderte Liebe. Auch weniger wäre noch genug im totalitären Regime Ceaușescus. Die Folge: Verlust des Arbeitsplatzes, Morddrohungen, ein abgetrennter Finger in der Handtasche. Auch ihr Mann wird eingeschüchtert. Sie gewöhnt sich Ticks und Neurosen an, die etwas nützen. Wirklich oder nicht, darauf kommt es nicht an. Es braucht nicht viel, um irre zu werden. Ha, ha, nicht irr werden.

„Will er seinen Spaß noch mal mit uns, will er. Will er hier essen mit uns, will er. Na gut, dann kriegt er seinen Ehrenteller. Für den hab ich was zuhaus, dem tu ich Gift ins Essen.“

Herta MüllerHeute wär ich mir lieber nicht begegnet

Unverkennbar verweist die Ich-Erzählerin des Romans auf dessen Autorin. Weil sie sich weigerte, Spitzeldienste für den rumänischen Geheimdienst zu verrichten, wurde Herta Müller jahrelang bedroht und schikaniert. 1987 gelang die Ausreise nach Deutschland. Wie in den meisten ihrer Romane, setzt sich Müller auch in Heute wär ich mir lieber nicht begegnet mit den Auswirkungen der Diktatur auf das Individuum auseinander. Dabei bedient sie sich einer Sprache, die in Stil und Tonart unverwechselbar ist. Objekte und Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs verschmelzen darin zu poetisch-präzisen Bildern und Metaphern, die nie überladen wirken. Dass es Müller bei aller Ernsthaftigkeit ihres Sujets gelingt, auch heitere und grotesk-humorvolle Episoden einzuflechten, macht ihren Roman umso lesenswerter.

Tino Schlench - Literaturpalast - Nichtbegegnet2

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