Eine Liste ist eine Liste ist eine Liste. Ein Jahr in Büchern: 2020. Erinnerung, sprich. In neun Miniaturen.
Rumena Bužarovska: My Husband
Anfang des Jahres macht mir M. ein Angebot, das ich unmöglich ablehnen kann. Er möchte mich beim Aufbau einger eigenen Webseite unterstützen. Wir treffen uns mehrfach im Kaffeehaus, telefonieren und diskutieren Entwürfe. Die Seite soll an meinem Geburtstag im März online gehen. Ich überarbeite Texte und Bilder, schreibe eine kurze Biographie über mich, die Malina von Ingeborg Bachmann plagiiert, und führe ein Interview mit dem Kētos-Verlag. S. macht Photos von mir im Wiener Rathaus. An meinem Geburtstag begießen wir den neuen Literaturpalast.
Das Frühjahr bringt gleich drei Moderationsaufträge. Dabei geht um die Veranstaltung Zugezogen. Feminin auf der Leipziger Buchmesse, die Diskussionsrunde Zusammen liest man weniger allein in Wien und ein Gespräch mit den Autorinnen Lana Bastašić und Rumena Bužarovska an der Berliner Volksbühne im Rahmen des Festivals POST WEST. Keine der genannten Veranstaltungen findet statt. Im Moment der Absage beschäftige ich mich gerade mit den Erzählungen von Bužarovska. Die englische Ausgabe des Bandes versteckt sich nun angelesen in meinem Bücherregal. Sie wartet auf ihren deutschsprachigen Zwilling, der im Frühjahr 2021 erscheinen wird.
Oleksij Tschupa: Märchen aus meinem Luftschutzkeller
Mitte März treten in Österreich die angekündigten restriktiven und freiheitsbeschränkenden Maßnahmen in Kraft. Ein Wikipedia-Satz. Ich führe viele Telefonate, regle meinen Alltag und beschäftige mich mit dem Lektorat wissenschaftlicher Texte. Das Lesen fällt mir in diesem Tagen und Wochen schwer. Eine Ausnahme ist der Erzählband Märchen aus meinem Luftschutzkeller von Oleksij Tschupa. Das Buch erzählt von einem heißen Sommertag in der Ostukraine, kurz vor Ausbruch des Krieges und dem Ende des Alltäglichen.
Eine Zeit lang lese ich einmal pro Woche über Instagram Live aus Werken der osteuropäischen Literatur vor. Die gewählten Textausschnitte sollen….ja was eigentlich? Vielleicht müssen diese Lesungen gar keinen Zweck erfüllen. Vorab hole ich die Zustimmung bei den Rechte- und Lizenzabteilungen der Verlage ein. Das funktioniert zumeist unproblematisch. Nur ein Text – der einzige, der nicht aus Osteuropa stammt – wird mir verwehrt. Ich darf nicht aus meiner alten Ausgabe der Erzählung So leben wir jetzt von Susan Sontag lesen, da der Text in einer Neuübersetzung im Herbst erscheinen werde. Der Verlag bittet mich um Verständnis.
Ilija Trojanow: Gebrauchsanweisung fürs Reisen
Da Veranstaltungen nur mehr digital möglich sind, erhalte ich im April eine Anfrage von Traduki. In welcher Form könnten wir in der aktuellen Situation zusammenarbeiten, um der Literatur Südosteuropas eine Plattform zu bieten? In mehreren Skype-Gesprächen erarbeiten wir das Konzept für einen gemeinsamen Podcast. Freunde und Bekannte helfen mir in technischen Fragen, da ich von Equipment, Schnitt und Postproduktion zu diesem Zeitpunkt noch keine Ahnung habe. Ich verbringe fortan viele Stunden mit YouTube-Tutorials. Mikrophone sind während der Pandemie eine gefragte Ware und so verzögern Lieferengpässe den Start des Podcasts führ mehrere Wochen.
Mitte Juni treffe ich meinen ersten Gast. H. konnte den Autor und Publizisten Ilija Trojanow für die erste Ausgabe der Literaturpalast Audiospur gewinnen, was mich sehr freut, aber auch nervös macht. Ich decke mich mit seinen Büchern ein, lese drei davon zur Vorbereitung auf das Gespräch. Besonders gut gefällt mir die Gebrauchsanweisung fürs Reisen. Viele Erfahrungen und Ansichten Trojanows decken sich mit meinen eigenen. Unser Treffen findet in den Redaktionsräumen der Zeitschrift Wespennest statt. Das war mein Wunsch, weil ich im Wespennest vor einigen Jahren meine erste Rezension veröffentlicht habe. Mir ist schlecht vor Aufregung. Diese legt sich während des Gesprächs jedoch schnell.
Danilo Kiš: Familienzirkus
Im August reise ich mit L. für ein paar Tage nach Prag. Ich bin mir sicher, nur während der Zugfahrt Zeit zum Lesen zu finden. In den vorangegangenen Satz hat sich gleich viermal der Buchstabe Z eingeschlichen. Ebenso viele Bücher befinden sich in meinem Gepäck. Ich werde nur einem davon meine Aufmerksamkeit schenken können. Am Abend bestelle ich in der Bar Boudoir – U Sta rán viermal das Getränk Negroni. Es ist meine Lieblingszahl. Außerdem trinke ich gern. Tags darauf besuchen wir das Franz-Kafka-Museum in der Nähe des Moldauufers. In einem Raum, in dem Szenen aus dem Leben des Schriftstellers an die Wände projiziert werden, mache ich ein Photo von mir. Hier endet die Aufzählung.
Während der An- und Abreise lese ich im Famlienzirkus von Danilo Kiš. Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch kenne ich bereits, nun widme ich mich dem autobiographischen Roman Garten, Asche. Zwei sehr unterschiedliche Texte. Gemeinsam ist ihnen, dass bereits wenige Seiten genügen, um dem Autor zu verfallen. Womöglich ist Kiš derjenige Schriftsteller, der mich in diesem Jahr am meisten beeindruckt hat. Das mache ich nicht zum Thema, als ich im Speisewagen auf M. treffe. Er arbeitet an seinem Laptop und ich spreche ihn an. Wir kennen uns nicht, sind uns noch nie begegnet, haben aber viele gemeinsame Freunde. Unsere Gesichter begegnen sich ab und an in den sozialen Medien. Er berichtet von seinen Plänen für den Sommer, ich frage nach dem Roman, den er neulich aus dem Tschechischen übersetzt hat. In Brno steigt er aus.
Witold Gombrowicz: Ferdydurke
Irgendwann stand mir in diesem undankbaren Jahr der Sinn nach einem Geheimbund. Das klingt viel besser als Chat-Gruppe, meint aber dasselbe. Gemeinsam mit sechs anderen Bloggerinnen und Bloggern tausche ich mich innerhalb dieses Verblendungszusammenhangs über das Lesen und Schreiben aus. Unsere Gesprächskultur als seriös zu bezeichnen, wäre eine dreiste Lüge.
Irgendwann entstand die Idee, gemeinsam ein Buch zu lesen und zum gleichen Zeitpunkt eine Besprechung dazu zu veröffentlichen. Nach langer Suche entschieden wir uns für den Roman Ferdydurke des polnischen Autors Witold Gombrowicz. Das Buch ist vergriffen. Über die polnische Buchhandlung in Wien konnte ich jedoch eine gebrauchte Ausgabe beziehen. Der Club der polnischen Versager in Berlin bot Gelegenheit für eine visuelle Umsetzung des Beitrags. Letztlich entstanden ganz unterschiedliche Zugänge und Auseinandersetzungen mit dem in Vergessenheit geratenen queeren Klassiker.
Iris Wolff: So tun, als ob es regnet
Im Oktober 2019 wurde mir auf der Frankfurter Buchmesse die Autorin Iris Wolff vorgestellt. Ich hatte bereits von ihr gehört, wusste, dass sie sich mit Rumänien auseinandersetzt, kannte aber noch keines ihrer Bücher. Ich wechsle ins Präsens und lese mich für die September-Augabe der Audiospur in ihre Texte ein. Die Unschärfe der Welt erhält in diesen Tagen sehr viel Zuspruch und ist für mehrere Preise nominiert. Deutlich besser gefällt mir der Vorgängerroman So tun, als ob es regnet. Die Sprache ist einfacher, klarer, weniger herausgeputzt. Das Buch will weniger und erreicht dadurch mehr. Wolff ist ein wunderbarer Gast.
Meine Lektüre ihrer Romane wird durch eine Bewerbung für ein Stipendienprogramm unterbrochen. Es richtet sich an Journalist*innen, die Arbeitserfahrung im Ausland sammeln möchten. Ich bin kein Journalist, reiche aber dennoch meine Bewerbungsunterlagen ein. Ich wünsche mir, für zwei Monate in einer Kulturredaktion in Bukarest zu arbeiten. Dieser Wunsch wird sich erfüllen, denn ich erhalte das Stipendium. Ich werde es im Verlauf des Jahres 2021 antreten können.
Sandra Gugić: Zorn und Stille
Für einen kurzen Moment im Herbst sind Veranstaltungen wieder möglich. Wenn auch unter strengen Auflagen. Ich werde eingeladen, Sandra Gugić im Literarischen Colloquium in Berlin zu moderieren. Die Lesung ist Teil der Veranstaltung Die guten Tage am Wannsee – Literatur und Musik aus dem Südosten Europas. Für die Reise nach Berlin benötige ich einen Corona-Test, für den ich ein Labor im dritten Wiener Gemeindebezirk aufsuche. Das medizinische Personal ist höflich und gut gelaunt. Meine Nasenhöhle schmerzt ein wenig. Ich habe das Gefühl, im Jahr 2020, im Hier und Jetzt angekommen zu sein.
Im Zug nach Berlin lese ich die letzten Seiten aus Zorn und Stille. Je näher ich dem Ende komme, umso weniger kann ich nachvollziehen, warum dieser Roman den Jurymitgliedern sämtlicher Literaturpreise nicht aufgefallen ist. Das Buch findet sich auf keiner Long- oder Shortlist. Im besten Fall irre ich mich. Der Abend am Wannsee ist schön. Neben Sandra Gugić lesen auch die kroatische Autorin Ivana Sajko und die slowenische Lyrikerin Anja Golob aus ihren Texten. Der Lautist Edin Karamazov spielt am Ende Bach. Der Abend am Wannsee ist schön.
Elke Erb: Kastanienallee
Ich lebe schon seit Jahren nicht mehr in Berlin, doch wohne ich noch immer auf der Kastanienallee. Irgendwie. Denn nach wie vor steht mein Name auf dem Briefkasten und Klingelschild meiner alten Wohnung. Ab und an kommen Briefe für mich an, die mir K. nach Wien weiterschickt. Oft mit so viel Verzögerung, dass sie längst zu Altpapier geworden sind. Das ist nicht schlimm. Besuche ich K., klopfe ich an meine eigene Tür. Meist schaue ich nur auf einen Kaffee vorbei. Im Oktober bleibe ich für fast zwei Wochen, nur um zu merken, dass mir die Stadt abhanden gekommen ist.
Elke Erbs Gedichtband aus dem Jahr 1987 kaufe ich in einem Antiquariat auf der Prenzlauer Allee. Der Laden ist so vollgestopft, dass im Grunde nur Zufallsfunde möglich sind. Der Besitzer meint, das belebe das Geschäft. Je unübersichtlicher, desto besser. Seitdem eine Influencerin in der Nähe hier regelmäßig Photos mache, mangle es zudem nicht an Kundschaft. Dennoch bin ich ganz allein hier. Es riecht flüchtig nach toten, selbstvergessenen Mäusen. Erb wird in diesen Tagen der Büchner-Preis verliehen. Auf dem Cover des Gedichtbandes, den ich aus einem Regal klaube, meine ich, das Gebäude neben meinem alten Wohnhaus auszumachen. Auf meinen Streifzügen durch Berlin wird mir das Buch ein steter Begleiter sein.
An einem Sonntag – kurz vor meiner Abreise nach Wien – besuche ich meine Freundin J., die in einem Plattenbau am Hackeschen Markt wohnt. Jedes Mal, wenn wir uns sehen, trinken wir ungenießbaren Tee und feiern Weihnachten. Wir sehen uns höchstens zweimal im Jahr. Gemeinsam verfolgen wir am Laptop die Verleihung des Buchblog Awards. Die Moderatorin bemüht sich, mit einer bunten Perücke und bedruckten Socken die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Das ist mir unangenehm. Gegen Ende der Veranstaltung wird mir der Preis für den besten Buchblog zugesprochen und ich werde per Webcam dazugeschaltet. J. ist nervöser als ich selbst. Sie greift nach ihrem Telefon und filmt mich dabei, wie ich meiner Freude über die Auszeichnung keinen Ausdruck verleihen kann.
Jana Volkmann: Auwald
Anfang November liest Jana Volkmann in der Alten Schmiede aus ihrem Roman Auwald. Wir sind seit einer Weile miteinander befreundet. Obwohl ein weiterer Lockdown und eine Ausgangssperre anstehen, ist die Lesung nicht gut besucht. Es ist ein lauer Abend. Die Menschen zieht es nach draußen in die Kneipen und Cafés, die ab morgen schließen werden. Nach dem Ende der Veranstaltung stehen wir in einer kleinen Gruppe auf der Straße und beraten, wie wir den Rest des Abends begehen wollen.
In diesem Moment fahren Polizeiwagen an uns vorbei, die uns dazu auffordern, ins Gebäude zurückzukehren. In unmittelbarer Nähe habe es einen Anschlag gegeben, der oder die Täter seien flüchtig. Wir stellen uns darauf ein, den gesamten Abend in der Alten Schmiede verbringen zu müssen. Die Räume sind abgedunkelt. Wir schauen unablässig auf unsere Smartphones, führen Gespräche und trinken Rotwein. Gegen 2 Uhr in der Nacht befinde ich mich für einen kurzen Augenblick allein im Hinterhof der Kultureinrichtung. Jemand versucht, das Tor aufzustoßen und ich schaffe es nicht mehr, in das Gebäude zurückzukehren. Eine Waffe wird direkt auf mich gerichtet. Es ist die Polizei, die uns evakuiert und wenig später nach Hause schickt. Den Fußweg in den zweiten Bezirk werde ich allein antreten. Es geht mir gut.